Islam und Homosexualitaet:
الحمد لله - ich bin Muslim, und ich bin schwul!

Die 'einleitenden Worte' aus dem Buch:

 "Islam und Homosexualität im Qur'ân und der Hadîṯ-Literatur, Teil 5, Geschichte des Sodom-Mythos, die Entstehung und die Verbreitung unter den Muslimen",

die ein wenig detaillierter die Argumente und Belege vor der Verwendung von ChatGPT aufzeigen.


Einleitende Worte

Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen beginnt diese Arbeit. Denn zu Ihm nehmen wir unsere Zuflucht, und in Seinem Namen beginnen wir. Und ich bitte Ihn, mir beizustehen, diese Aufgabe angemessen zu bewältigen und mich dabei nicht irregehen zu lassen, so dass sie zum Nutzen für den Islam und für die Muslime werden kann.

In dieser Schrift - wie auch in allen anderen Veröffentlichungen des Autors - wird Islam als die von Allah offenbarte und im Qur'ân niedergelegte Lehre verstanden. Sie ist umfassender, mehr, weitaus mehr als die Summe der bestehenden Muslimtümer, d.h. Ergebnisse der bisherigen Beschäftigung der Muslime mit dem Islam und  ihren Ausformulierungen.

Wer in alte religiöse Literatur „einsteigt“ mag sich bisweilen erhoffen, anhand der Aussagen der frühen Mus­lime dem ursprünglicheren Verständnis seines Glaubens näher zu kommen. Diese Seiten zeigen jedoch ein ganz anderes Ergebnis: Je länger die Beschäftigung mit den Inhalten alter Qur'ân-Kommentare dauerte, desto mehr wurde deutlich, dass es parallele Sichtweisen gibt: Auf der einen Seite die klaren Worte und Aus­sa­gen des Qur'âns, daneben etwas anderes, nämlich eine andere Vorstellungswelt über das, was auf Grund tradierter, verbreiteter, jahrhundertealter Ansichten und Glaubenssätzen - insbesondere auch aus der Zeit vor der Offenbarung des Qur'âns - „eigentlich“ damit gemeint sein müsste. Von Menschen, die mit anderen Ideen, Narrativen auf­ge­wachsen sind, eine Herausforderung, die nicht immer adäquat gelöst wurde.

Der Qur'ân ist nun aber die eigentliche Quelle für alles, was den Islam betrifft. Doch Übersetzungen des arabischen Textes sind oft von Ideen und Überzeugungen desjenigen abhängig, der oder die ihn in eine andere Sprache überträgt. Das trifft dann für Kommentare in besonderem Maße zu.

Und es bestand offenbar die Ansicht, dass eine kritische Prüfung des Qur'ân-Textes und das Festhalten an ihm zurückzustehen habe gegenüber den zahlreichen, bildgewaltigen und geläufigen Erzählungen aus un­sicheren Quellen.
Eine weitere Quelle können Hadîte sein, überlieferte Aussagen des Propheten Muhammad (S) und Berichte über das, was er getan, gesagt, gebilligt oder missbilligt hat. Nur haben diese Überlieferungen oft nicht die erforderliche Authenti­zität, um sie unbesehen zu akzeptieren. Die muslimische Geschichte weist zahllose Fälschungen und damit Fälscher auf, so dass nur eine akribische Prüfung weiterhilft.

Ein anderer Weg, um mehr über den Islam und seine Lehren zu erfahren, ist, mit einem Menschen zu spre­chen, der sich mit seiner Religion ausführlich befasst hat. Doch auch er oder sie ist ein Kind seiner/ihrer Zeit, das Resultat auch einer langen Lehrtradition, die auf 'Erbe und Tradition' (wie manche Gelehrte es gerne nen­nen) beruht und in der Aussagen und Meinungen unhinterfragt übernommen werden.

Noch eine Möglichkeit ist, alte schriftliche Quellen zu befragen und kritisch zu prüfen, auch weil vielfach die An­sicht besteht, dass sie - weil sie älter sind und bestimmte Lehrmeinungen aus der Geschichte noch nicht kennen konnten und dadurch möglicherweise auf einer 'ursprünglicheren' Fömmigkeit fußen - damit gege­be­nen­falls den ursprünglichen Lehrinhalt eher wiedergeben. Doch auch die Autoren dieser alten Schriften konnten schon mit Vorstellungen und Meinungen aus ihrer eigenen Vergan­gen­heit befangen sein.
Eine weitere Quelle bei der Interpretation des Qur'âns ist das, was Allah bei der Erschaffung der Welt in Sei­ner Schöpfung festlegte, in ihr 'offenbarte' (arabisch: waHy: 41:11,12), sozusagen ‚inhärente’ Offenbarungen. Wenn wir sie berücksichtigen, dann entfällt so mancher Mythos und so manche Fantasiegeschichte. Aber wie es scheint, vertraut die Mehrheit muslimischer Gelehrter eher auf  überlieferte Meinungen, anstatt diese anhand den Fakten der Schöpfung zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren.
Der größte Teil dieser „einleitenden Worte“ stammt aus dem Buch „ISLAM UND HOMOSEXUALITÄT im Qur’ân und der Hadîṯh-Literatur, Teil 4, tafsîr-Geschichte, Der Einfluss der mawâlî auf das Denken der Muslime, wie er sich in alten Kommentaren widerspiegelt“, in dem 15 alte Qur'ân-Kommen­tare zu dem Thema „Lot und sein Volk“ untersucht wurden. Und er zeigt deutlich, wie sehr der Sodom-Mythos das Denken der Muslime bis heute „vernebelt“ hat.
ine zusätzliches Hilfsmittel bietet jetzt die künstliche Intelligenz, in der vorliegenden Arbeit ChatGPT, um Antworten auf viele dieser Fragen zu finden, und gibt hilfreiche Anstöße und Zusammenfassungen aus vor­handener Literatur (ChatGPT, Ende März - Ende Juli 2025). Die Unterseiten 'Fakten', 'Facts', 'Faits' und 'حقاءق' der in diesem Buch wiedergegebenen Web-Seite

www.islam_und_homosexualitaet.de

bestehen zu einem großen Teil aus den Antworten von ChatGPT auf eine Reihe von Fragen zur muslimischen Vergangenheit, und bestätigen die von mir vertretenen Aussagen.

Vor der Veröffentlichung wurden dieselben Fragen DeepSeek gestellt. Die Antworten von DeepSeek waren sehr ähnlich,, aber DeepSeek war vielfach ein wenig detaillierter und stufte die Aussagen klarer als religöse Meinung oder als Ergebnis wissenschaft­licher Untersuchungen ein.

Die heftigen Reaktionen und Anfeindungen bei diesem Thema von Seiten anderer Muslime erinnern mich viel­fach an die Entwick­lung der Astronomie und Kosmologie. Sie beschäftigt die Menschen seit Urzeiten, und sie entdeckten immer wieder Neues, verwarfen alte Ansichten und Modelle, entwickelten auf der Basis neu erkannter Sachverhalte ein realeres Bild von der Welt, in der wir leben. Lange Zeit verweigerten sich Gruppen von Menschen diesen Forchungsergebnissen, bestanden auf ihren fehlerhaften Annahmen, drohten und zwangen die Entdecker sogar zum Widerruf oder töteten deswegen. Dabei verkündeten die von ihnen Angefeindeten lediglich das, was Allah bei der Erschaffung der Welt in Seiner Schöpfung festlegte, in ihr 'offenbarte' (arabisch: waHy: 41:11,12), sozusagen ‚inhärente’ Offenbarungen, die der Mensch entdecken/ erforschen kann, um die Schöpfung Allahs und ihre interdependenten Abhängigkeiten und Regeln besser zu verstehen.

Unter diesem Aspekt sehe ich auch die Offenbarung des Qur’âns. Seine Worte sind demnach als eine Art Teilbereich innerhalb des Universums zu sehen, der zum Letzteren in einer Bezie­hung steht, etwas, das es zu verste­hen, zu entdecken und zu erforschen gilt. Seine Untersuchung, Interpretation, ist nie abge­schlossen, son­dern für alle Zeit offen, um neu erkannte Fakten zu berücksichtigen, bisher verwendete Mythen und Fehl­schlüsse abzulegen, wenn sie dem aktuellen Wissen widersprechen. Das bedeutet auch, als Erfindun­gen/Fäl­schun­gen erkanntes Überkommenes (auch sogenannte, nicht-authentische 'Hadîṯe') gegebenenfalls beiseite zu lassen. Selbst große Gelehrte konn­ten und können – wie alle Menschen – irren. Die Vor­stellung, dass alles Existierende auf Allah zurückgeht, von Ihm so 'gewollt' ist, ist dabei für einen religiösen Men­schen unbe­streitbar.

In den früheren Veröffentlichungen wurde ausführlich darauf hingewiesen, dass der Qur'ân den „Sodom-Mythos“ weder kennt noch unterstützt, auch wenn das in Kommentaren und anderen Schriften vielfach anders auftaucht.

Unter dem „Sodom-Mythos“ wird hier die Vorstellung verstanden, dass die Sünden der Bewohner Sodoms in einem homosexuellen Verhalten bestand. Eine solche Interpretation berief sich ursprünglich auf ein einziges miss­ver­stan­denes hebraisches Wort in einem der Mosesbücher des Alten Testaments und kann sich nicht auf den Qur'ân stützen.

Diese Fehlinterpretation erreichte die Muslime über die Generation der mawâlî (Singular: maulâ - Klient), d.h. in der Frühzeit der mus­limischen Geschichte zum Islam konvertierte Christen und Juden, die diese Vorstellungen mitbrachten und bald die Mehrheit der Muslime bildeten. Über sie fanden sie Eingang in die alten Qur'ân-Kommentare.

Die Muslime haben eine große Aufgabe vor sich, diesen Fragenkomplex zu untersuchen und aufzuarbeiten. Vielleicht sind diese Zeilen ein zusätzlicher Anstoß dafür. Und neben dem vorliegenden Thema gibt es sicher­lich eine Reihe anderer Bereiche, in denen es sinnvoll ist, den Wortlaut des Qur'âns entsprechend abzu­gleichen, und auch weil der Rückblick mancher Muslime auf Autoritäten der Vergangenheit ja auch die Akzeptanz von deren fehlerhafte Entscheidungen auf Grund falscher Annahmen beinhalten kann.

Das Wort šahwa (Pural: šahawât) im Qur'ân

Aus dem Buch  'Islam und Homosexualität im Qur'ân und der Hadîṯ-Literatur, Teil 4, tafsîr-Geschichte, Der Einfluss der mawâlî auf das Denken der Muslime, wie er sich in alten Kommentaren wider­spiegelt“':

„In den Büchern 'Islam und Homosexualität im Qur'ân und der Hadîṯ-Literatur' (Teil 1 - 4) und in einer Art kürzerer Darstellung, “Ehe für alle” im Islam? Sexualität, Partnerwahl, Ehebund, Familie im Qur’ân, wird gegen die homosexuelle Deutung der Geschichte von Lot und seinem Volk Stellung bezogen, aber noch deutlicher in dem Buch 'Lot and his people in the Qur'ân: Its significance for Muslims and for Islam', wo es heißt:
„Und im Fall des Wortes šahwa gibt es weder Fakten noch unbestreitbare Hinweise auf eine sexuelle Kon­no­ta­tion im Wortlaut des Qur'ân.
Aber die Feststellung, dass es bei den Versen über Lot und sein Volk so verstanden wurde, beweist, wie früh und nachhaltig der Sodom-Mythos seinen Weg in das Denken der Muslime fand und damit natürlich auch in die Hadîṯ-Fälschung.“

In Qu'ân-Übersetzungen (von Muslimen und Nicht-Muslimen) heißt es für den Ausdruck „ شَهْوَةً  - šahwatan - bei einem Begehren“ in den Versen  (7:81) und (27:55) - hier eine Auswahl:

Übersetzung

Vers (7:81)
mit شَهْوَةً - šahwatan

Vers (27:55)
mit شَهْوَةً - šahwatan

Vers 26:165
ohne شَهْوَةً - šahwatan

Vers (29:29)
ohne شَهْوَةً - šahwatan

Bubenheim, Elyas, Der edle Koran: https://tanzil.net/#trans/de.bu­ben-heim

in Begierde

in Begierde


(in Begierde)

Rudi Paret, der Koran, 1979

in (eurer) Sinnenlust

in (eurer) Sinnenlust



Ahmadiyya, deutsch, Der Heilige Qur-ân, 1980

in Begierde

in Begierde


(in Begierde)

Lazarus Goldschmidt, der Koran, 1916

in Begierde

in Begierde



Max Henning, der Koran, 1901 u. 1960

im Gelüst

in Lüsten



Ludwig Ullmann, der Koran, 1959

wollusttrunken

in lüsterner Begier


schamlos

Maulana Sadr-ud-Din, der Koran, 1964

mit Sinnlichkeit

in Sinnlichkeit








Mohammed Marma­duke Pickt­hall, The Meaning of the Glori­ous Koran, 1961
deutsch:

with lust


mit Lust

must ye needs lust after men instead of women?

müsst ihr Lust auf Männer statt auf Frauen haben?



Muhammad Asad, The Message of The Qur'ân, 1980
deutsch:

with lust

mit Lust

with lust

mit Lust

[lustfully]

[wollüstig]

[with lust]

[mit Lust]

Ahmadiyya, english, The Holy Qur'ân, 1969
deutsch:

with lust

mit Lust

lustfully

wollüstig, lüstern


with lust

mit Lust

S.  Abu A'lâ Maudûdi, The Holy Qur'ân, 1987
deutsch:

for the gratification of your sexual desire
für die Befriedígung eurer sexuellen Begierde

you gratify your lust

ihr befriedigt eure Lust



Abdullah Yusuf Ali, The Holy Qur-an, 1946
deutsch:

you practise your lusts

ihr übt eure Lüste aus

approach men in your lusts

ihr nähert euch Män­nern in euren Begierden



Maulânâ Muhammad 'Alî, The Holy Qur'ân, 1951
deutsch:

with lust

mit Lust

lustfully

wollüstig, lüstern



Muhammad Hamidullah,  le Coran, 1959

deutsch:

vous allez de désire aux hommes au lieu de femmes
ihr geht bei einem Begehren zu Männern statt zu Frauen

vous allez d'appétit aux
 hommes, au lieu de femmes
ihr geht aus Appetit/Verlangen, zu Männern, statt zu Frauen




Abdullah Yusuf Ali, The Holy Qur-an, macht aus dem arabischen Singular in der Übersetzung einen Plural. Andere sprechen von Sinnenlust, Sinnlichkeit, Begierde, sexueller Begierde, Gelüst, Befriedigung eurer sexuellen Begier­de, nutzen Adjektive wie wollust­trunken, wollüstig, lüstern usw. Nur Muhammad Hami­dullah, Le Coran, übersetzt als einziger neutraler, ohne ausdrückliche sexuelle Anspielung.

Auffallend ist, dass neuzeitliche Übersetzungen und Kommentare des Qur'âns sich lediglich auf das Wort sahwa kon­zentrie­ren und die in alten Kommentaren bevorzugten ergänzenden Verwendungen wie adbâr - Hinterteile - und Ähn­liches - vermeiden, offenbar weil sie es für peinlich halten und weil es sich dabei für jeder­mann erkennbar um ein willkürliches Überstülpen von textfremden, nicht akzeptablen Vorstellungen handelt.

In 4 Fällen, in von Muslimen (!!!) erstellten, zwei deutschen Übersetzungen und zwei englischen wird der Vers (29:29) mit „(in Begierde)“ bzw. „with lust“/“[with lust]“ sogar willkürlich ergänzt, so, als ob Allah hier bei dessen Offen­barung dieses Wort „ver­gessen“ hätte, der vorhandene Wortlaut nicht der ist, den Allah eigentlich so gewollt habe. Manche „Übersetzer“ wissen es wohl anscheinend „besser“. Mohammad Asad macht dies auch bei (26:165): [lustfully] - [wollüstig].

Bei dieser Überzahl mit einer sexuellen Anspielung sollte eigentlich doch klar sein, was hier gemeint ist?? Ist es gerechtfertigt, dem Mehrheitsverhältnis zu vertrauen (13 : 1) mit einer (homo-)sexuellen Konnotation??

Und kann und darf man einer Jahrhunderte alten homophoben Mehrheitsmeinung mit guten Argumenten wider­sprechen oder sollte man besser an einem Narrativ festhalten, das sich vor langer Zeit auf Grund eines einzigen missverstandenen Wortes in einem der Mosesbücher im AT unter den Gläubigen gebildet hatte und dann von Generation zu Generation weiter­gegeben wurde?

Eher ist es an der Zeit, oder besser: ist es unsere Aufgabe als Muslime, das falsche Bild, das uns aus der Ver­gan­genheit über­liefert wurde, beiseite zu lassen und das weiterzuvermitteln, was der Qur'ân tatsächlich sagt und was auch historisch haltbar ist.

Es gibt keinen einzigen historischen Beleg dafür, dass das Volk Lots die Vergehen begangen hatte, die ihm gemäß dem Sodom-Mythos allgemein vorgeworfen werden, wie auf den folgenden Seiten noch gezeigt wird.

So sind auch in den neuen Übersetzungen und Kommentaren die Nachwirkungen der alten Kommentare deut­lich erkennbar, wie es die Übersetzung des Wortes sahwa als (homo-)sexuelles Begehren im Falle von Lot und seinem Volk widerspiegelt.

Der Eindruck, dass einige Kommentare den Qur'ân korrigieren wollen, ist offensichtlich, z.B. indem von Lots beiden Töchtern (im Dual) gesprochen wird, anstatt den im Qur'ân stehenden Plural zu verwenden.

Zusätzlich erweckt die Verwendung des Wortes  شهوة - šahwa im Qur'ân für einen Nicht-Linguisten dennoch den Verdacht, dass in den Wörterbüchern eine solche Konnotation das Ergebnis einer wechselseitigen Beein­flussung des Sodom-Mythos auf die Qur'ân-Auslegung der Verse über Lot und sein Volk ist, und diese wiederum auf die Wörterbücher für das Vorhandensein dieser Konnotation im Arabischen der klassischen Periode, da der Qur'ân in dieser Periode offenbart wurde (ein sehr seltsamer Umkehrschluss).
(aus: “Ehe für alle” im Islam? Sexualität, Partnerwahl, Ehebund, Familie im Qur’ân“).

Die Bedeutung von šahwa - Begehren, Wunsch, Anliegen im Qur'ân

„Das Wort šahwa kommt einschließlich der Verbformen an 13 Stellen im Qur’ân vor:
-  šahwa (sing.): 7:81 und 27:55, d.h. der Singular erscheint nur im Zusammenhang mit dem Volk Lots und wird von Übersetzern, Kommentatoren überwiegend im sexuellen Sinn ver­stan­den.
-  šahawât (pl.): 3:14, 4:27 und 19:59 (zur Bedeutung: s.u.)
- als Verbum (VIII. Stamm): 16:57, 21:102, 34:54, 41:31, 43:71, 52:22, 56:21, 77:42, das an keiner dieser Stellen einen sexuellen oder homosexuellen Nebensinn hat.

(3:14):

Verschönt ist den Menschen die Liebe [Hubb] zu den begehrten [Dingen, Wünschen - aš-šahawât]: Frauen, Kindern, aufgespeicherte Haufen von Gold und Silber, wohlgezüchteten Pferden, Viehherden und Saatfeldern. Das ist die Versorgung für dieses Leben; und Allah ist es, bei Dem die schönste Heimstatt ist.

Im diesem Vers (3:14) werden Frauen, Kinder, aufgespeicherte Haufen von Gold und Silber, wohlgezüchtete Pferde, Viehherden und Saatfelder als šahawât  (hier übersetzt mit: "begehrte Dinge") und als Versorgung Allahs für dieses Leben bezeichnet; und jenen, die Allah fürchten, wird - wie der folgende Vers zeigt - im Jenseits noch Besseres verheißen. An einer anderen Stelle, in (2:267), werden die irdischen Güter "gute Dinge" genannt, um von ihnen zu spenden.

Die gleichzeitige Nennung von anderen Wunschzielen neben den Frauen zeigt, dass auch hier kein sexu­eller Aspekt des Begehrens (wie etwa das Wort Sinnenlust o.ä., das in manchen Übersetzungen der Verse von Lot und seinem Volk verwendet wird) im Vordergrund steht, sondern der Wunsch, das Begehren nach einer Vielzahl und nach wertvollen materiellen Dingen, und von Letzteren große Mengen von dem, was das Leben in deren Augen angenehmer und lebenswerter macht.

Die Ausdrucksweie „den Begehren/Wünschen folgen“ kann einen negativen Sinn enthalten, wenn damit gemeint ist, dass jemand dabei gleichzeitig seine religiösen Verpflichtungen vernachlässigt.

(4:27):

Und Allah wünscht Sich in Gnade euch zuzuwenden; und jene, die den begehrten [Dingen/ Wünschen - aš-šahawât] folgen, wollen, dass ihr euch weit [vom rechten Weg] abwendet.

(19:59):

Dann aber kamen nach ihnen schlechte Nachfahren, die das Gebet vernachlässigten und den begehrten Dingen/ [- aš-šahawât] Wünschen folgten. So gehen sie nun sicherlich dem Untergang entgegen.“

Muhammad Asad spricht hier in seinem Kommentar, S. 464, von 'self-deception' = Selbsttäuschung, Selbst­betrug.

Der Vers (3:14) ist eine klare Aussage, wie das Wort šahwa im Qur'ân verstanden wird. An keiner anderen Stelle wird der Umfang der Bedeutungen, in der der Qur'ân es verwendet, deutlicher, dass es bei dem Begehrten um Vielheit, eine Anhäufung, Vermehrung, eine große Menge geht.

Bei der anschließenden Untersuchung der vom Qur'ân verwendeten Bedeutungen des Wortes bleiben die beiden sich auf Lots Volk beziehenden Stellen unberücksichtigt, da sie an anderer Stelle besprochen wer­den.

Im Folgenden alle Verse, in denen das Wort šahwa und alle Ableitungen verwendet werden:
(3:14):

Verschönt ist den Menschen die Liebe zu den begehrten [Dingen, Wünschen  - aš-šahawât]: Frauen, Kinder, aufgespeicherte Haufen von Gold und Silber, wohlgezüchtete Pferden, Viehherden und Saatfelder. Das ist die Versorgung für dieses Leben; und Allah ist es, bei Dem die schönste Heimstatt ist.

(4:27):

Und Allah wünscht Sich in Gnade euch zuzuwenden; und jene, die den begehrten [Dingen/ Wünschen - aš-šahawât] folgen, wollen, dass ihr euch weit [vom rechten Weg] abwendet.

(7:81)
(16:57):

Und sie hängen Allah Töchter an - erhaben ist Er [über solche Erfindungen] -, während sie [selbst] haben, was sie begehren.

(19:59):

Dann aber kamen nach ihnen schlechte Nachfahren, die das Gebet vernachlässigten und den begehrten [Dingen, Wünschen - -šahawât]/Wünschen folgten. So gehen sie nun sicherlich dem Untergang entgegen.

(21:102):

Sie werden nicht den leisesten Laut davon [vom Stöhnen jener in der Hölle] hören, während sie in dem verweilen, was sie selbst begehren.

(27:55)
(34:54):

Und ein Abgrund liegt zwischen ihnen und dem, was sie begehrten, wie es ihresgleichen zuvor widerfuhr. Sie waren gewiss in beunruhigendem Zweifel [an der Wahrheit der göttlichen Botschaft].

(41:31):

Wir sind eure Freunde im Diesseits und im Jenseits. In ihm werdet ihr alles haben, was ihr selbst begehrtet, und in ihm werdet ihr alles haben, wonach ihr verlangt.

(43:71):

Schüsseln von Gold und Becher werden unter ihnen kreisen, und darin wird alles sein, was sie selbst begehren und [woran] die Augen sich erfreuen. Darin sollt ihr bleiben.

(52:22):

Und Wir werden sie reichlich mit Früchten und Fleisch versorgen, [mit allem,] was sie begehren.

(56:21):

Und Fleisch und Geflügel, das sie begehren,

(77:42):

Und Früchten, [allem,] was sie begehren.

Im Vers (3:14) werden Frauen, Kinder, aufgespeicherte Haufen Gold und Silber, Pferde, Viehherden und Saatfelder als "begehrte Dinge" (šahawât) und als Versorgung Allahs für dieses Leben bezeichnet; und jenen, die Allah fürchten, wird - wie der folgende Vers zeigt - im Jenseits noch besseres verheißen. An einer anderen Stelle, in (2:267), werden die irdischen Güter "gute Dinge" genannt, um von ihnen zu spenden.

Die gleichzeitige Nennung von anderen Dingen neben den Frauen zeigt, dass hier kein sexueller Aspekt des Begehrens gemeint ist, sondern der Wunsch nach dem, was das Leben in ihren Augen angenehmer und lebens­werter macht.

Dafür könnte der Zeitpunkt der Offenbarung von (3:14) sprechen:
Im Vorwort zu sûra 3 (âl cimrân), S. 65, The Message of the Qur'ân, von Muhammad Asad, heißt es u.a.:
„Diese sûra ist die zweite oder (nach einigen Autoritäten) die dritte, die in Medina offenbart wurde, offenbar im Jahr 3 AH: Einige ihrer Verse gehören jedoch zu einer viel späteren Periode, nämlich zum Jahr vor dem Tod des Propheten (10 AH).“

Vorwort sûra 4 (an-nisâ'), S. 100, The Message of the Qur'ân, von Muhammad Asad, u.a.
„Es besteht kein Zweifel, dass diese sûra in ihrer Gesamtheit in die Zeit von Medina gehört. In der Reihen­folge der Offenbarung folgt sie entweder unmittelbar auf âl ʿimrân [...]. Im Großen und Ganzen ist es jedoch am wahrscheinlichsten, dass sie im vierten Jahr nach der hijra offenbart wurde, obwohl einige ihrer Verse zu einer früheren und Vers 58 zu einer späteren Periode gehören könnten.“

Mit anderen Worten: Es ist nicht auszuschließen, dass der Vers (3:14) vor dem Vers (4:3), der sich auf die Situ­ation nach der Schlacht bei uHud im Jahre 3 AH bezieht, in der viele muslimische Männer ihr Leben ließen und als Folge ihre Frauen Witwen und ihre Kinder Waisen wurden, offenbart wurde. Im Letzteren wird die maximale Anzahl der Frauen, die ein Mann heiraten darf, auf 4 beschränkt.

Fasst man die Angaben bei Abû 'Abdallāh al-Zanǧâni, Die Geschichte des Qur'an, Hamburg 1999, im Kapitel 'Die Datierung der Suren' (S. 50 - 55) über die Reihenfolge der Offenbarungen in Medina, hier mit weiteren Angaben bei Muhammad Asad über die betroffenen Suren, zusammen, so ergibt sich folgendes Bild:

1. al-baqara (sûra 2, außer Vers 281)
2. al-anfâl (sûra 8) ca. 2 AH
3. âl ʿimrân (sûra 3) mit Vers (3:14)
4. al-aHzâb (sûra 33) ca.ab Ende 6 AH bis 7 AH
5. al-mumtaHanâ (sûra 60) in 7 AH - 8 AH
6. an-nisâ' (sûra 4) mit Vers   (4:3)
7. usw.

Das könnte bedeuten, dass in Vers (3:14) wirklich eine große Zahl an Frauen angesprochen wird, die die Männer sich neben vielen Kindern usw. wünschten, so wie es vor der Offenbarung von (4:3) möglich war.

In den Versen (4:27) und (19:59) kommt der Ausdruck yattabiʿûna/ittabaʿû`š-šahawât - sie folg(t)en [nur] den begehrten [Dingen/]Wünschen] - vor. In beiden Fällen wird dieser Ausdruck im negativen Sinne gebraucht, und zwar - wie der Zusammenhang zeigt - sind mit "denen, die den begehrten Dingen folgten" jene gemeint, die dies unter Missachtung der von Allah gesetzten Schranken tun und dabei das Gebet vernachlässigen, d.h. die ihren materiellen Wünschen vorrangig oder ausschließlich folgen.

Weder in (3:14) noch in (19:59) hat das Wort die Bedeutung von ‘sexueller Leidenschaft’; und auch bei (4:27) kann man dies wohl ausschließen.

Zwar gehen der zuletzt genannten Textstelle Verse voraus, die verbotene sexuelle Beziehungen ansprechen, aber es folgen ebenso Verse, die auf anderes eingehen wie z.B. den Besitz anderer durch unrechtmäßige Mittel aufzuzehren.

Auch hier steht die Verfolgung persönlicher Wünsche und Ziele unter Missachtung der Gebote und Verbote im Vordergrund.

Ebenso wie die zuvor genannten Verse beziehen sich (16:57) und (34:54) auf das Diesseits: Mit den "begehr­ten Dingen" sind im ersten Fall Söhne gemeint, während es im anderen offen bleibt.

In allen 6 weiteren Versen, die sich auf die Belohnungen im Jenseits beziehen, wird das Verbum 'begehren' in ausschließlich positivem Sinne gebraucht und bezeichnet die Wünsche der Rechtschaffenen, die dort ihre Erfüllung finden werden.

(21:102) und (41:31) spezifizieren  dies nicht näher, während (43:71) damit den Inhalt von Schüsseln aus Gold und Bechern beschreibt, (52:22) Früchte und Fleisch und (56:21) Geflügelfleisch und (77:42) Schatten, Quellen und Früchte.

In allen genannten Versen hat die verwendete Ableitung des Wortstammes shy/shw keinen expliziten sexuellen Bezug; selbst dann, wenn  auch Objekte sexueller Wünsche wie Frauen (3:14) aufgezählt werden, geschieht das jedoch eher in dem Sinne, dass sie zu einem angenehmen und lebenswertem Leben gehören. So kann man die Bedeutung, die hier im Deutschen mit „Begehren“ wiedergegeben wird, am besten umschreiben mit dem Streben nach materiellen Dingen, die das eigene Leben angenehm machen.

Lediglich der Ausdruck "sie folgen den begehrten [materiellen Dingen]" ist deutlich negativ; das Verbum "folgen" drückt hier eine gewisse Ausschließlichkeit aus, wodurch diese Dinge zum eigentlichen Lebensinhalt wer­den und  Gebote nicht mehr die Lebensführung bestimmen.

Auf Grund dieses Sachverhalts ist auch für die Verse von Lots Volk ein (homo-)sexueller Bezug bei der Verwendung des Wortes sahwa im Großen und Ganzen nicht sehr wahrscheinlich.“

Und S. 17 (aus: “Ehe für alle” im Islam? Sexualität, Partnerwahl, Ehebund, Familie im Qur’ân“):
„An allen diesen Stellen hat es ganz klar keinen sexuellen Bezug. Dieser entstand und verstärkte sich erst durch die traditionelle Qur'ân-Interpretation der Verse von Lot und seinem Volk unter dem Einfluss des Sodom-Mythos.“

Das Wort šahwa und seine Verwendung im Qur'ân erinnert sehr an einen anderen Begriff mit einer sehr ähn­lichen Bedeutung, nämlich takâṯur = Zunahme, Vermehrung. Anwachsen und sogar Profitgier. Es wird in 2 Ver­sen verwendet und unterstützt unsere Ansicht über die Bedeutung von šahwa im Qur'ân.

(57:20):

Wisset, dass das Leben in dieser Welt  nur Spiel und Zerstreuung und Gepränge und Geprahle unter euch und eine Vermehrung [takâṯur] von Gütern und Kindern ist. Es ist wie der Regen (der Pflanzen hervorbringt), deren Wachstum den Bebauer erfreut. Dann verdorren sie, und ihr seht, wie sie gelb werden; dann wird sie zu Spreu. Und im Jenseits ist strenge Strafe und Vergebung von Allah und Wohlgefallen. Und das Leben im Diesseits ist nur eine Täuschung.

(102:1-8)

Der Wettstreit um die Mehrung [at-takâṯur, des weltlichen Besitzes] lenkt euch ab.
Bis ihr die Gräber erreicht
Nein! Ihr werdet es bald wissen.
Nochmals: Nein! Ihr werdet es bald wissen.
Nein! Wenn ihr es nur mit Sicherheit wüsstet,
würdet ihr die Hölle sehen.
Ja, ihr solltet sie gewiss mit dem Auge der Gewissheit sehen.
Dann, an jenem Tag, werdet ihr über die Annehmlichkeiten (in diesem Leben)  befragt werden.

Sodom in den kanonischen Evangelien

In den 4 Evangelien äußerte sich Jesus nicht zur Homosexualität und kennt als Sünde Sodoms allein die Missachtung des Gastrechts (Matthäus 10, 11 - 15, Matthäus 11, 23 – 24, Lukas 10, 10 - 12).

Dieser Befund deutet darauf, dass der Sodom-Mythos wie auch die Verbindung von Homophobie mit der Religion zur Zeit der Entstehung der Evangelien keine allgemeine Verbreitung fand, er nicht Teil der Lehre von Jesus war, sondern auf andere religiöse Strömungen zurückgeht, die dann ihren Weg einerseits über die mawâlî zu den Muslimen fanden und andererseits in andere Schriften des Neuen Testaments, jedenfalls nicht in jene, auf deren Umfeld die Texte der Evangelien beruhen.

Und “Ehe für alle” im Islam? Sexualität, Partnerwahl, Ehebund, Familie im Qur’ân“, S. 34, folgert daher:

„Der Sodom-Mythos ist nichts weiter als eine Fiktion, eine Art Fabel, phantasievolle Erfindung, auf die sich die Generation der mawâlî  als ehemalige Christen und Juden stützte. Ihre Worte sind eine zu schwache Basis als Argument in einer Interpretation des Qur’âns. So können wir uns nur an die Worte des Qur’âns halten.“

Argumente aus dem Qur'ân

Außer dem Bedeutungsumfang der Wörter šahwa, Plural: šahawât - wie zuvor gezeigt - gibt es weitere plau­si­b­le Gründe im Qur'ân, die gegen den Sodom-Mythos sprechen.

Lots Ansprache an sein Volk und die Frauen

Es gibt 3 Passagen  (7:80, 81; 27:54, 55; 29:28, 29), in denen Lot sein Volk tadelt, die alle mit exakt denselben Worten eingeleitet werden:
wa lûTan id qâla li-qaumi-hi (و لوطا اذ قال لقومه) ”
„und (gedenke) Lots, als er zu seinem Volk (allen Männern und Frauen) sprach“.

In einer 4., wortgleichen Textpassage (26:161, 162) wird ebenfalls betont, dass Lot zu seinem Volk sprach, und er es in (26:165, 166) für sein Verhalten tadelte.

Der Leser wird in allen diesen Fällen vom Text des Qur'âns besonders darauf hingewiesen, dass Lot alle Leute, alle Männer und Frauen seines Volkes, in seinen Tadel einschließt.

Zwar verwendet der Qur'ân den männlichen Plural, wenn er das Volk, die Leute, anspricht. Doch ist das die Regel der arabischen Sprache, den männlichen Plural zu verwenden, wenn beide Geschlechter gemeint sind, Wenn man sich dies bewusst macht, bekommen die Verse über Lot und sein Volk einen ganz anderen Sinn und der sogenannte Sodom-Mythos als Interpretationsmerkmal ist erst recht nicht mehr haltbar.

Ob Lots Worte in seinem Tadel (7:81, 27:56) „Kommt ihr zu den Männern anstatt/und nicht zu den Frauen bei einem Begehren (arabisch: شهوة - šahwatan)  eine sexuelle Bedeutung haben, kann man sehr leicht durch Anwendung einfacher Logik prüfen: Sein Tadel richtet sich an القوم  (al-qaum), das Volk, alle Leute (Männer und Frau­en seines Volkes). Wenn seine Worte auf beide Gruppen im sexuellen Sinne anwendbar sind, können sie eine (homo)sexuelle Bedeutung haben, wenn nicht, können wir diese Bedeutung ausschließen.

Angewendet auf die Frauen: Glaubt wirklich jemand ernsthaft, dass das beabsichtigte Ergebnis seines Tadels “kommt ihr zu den Männern anstatt zu/neben den Frauen” ist, dass Lot wollte, dass die Frauen sich lesbisch ver­halten? Warum sollte er das tun?

In den beiden vorgenannten Versen wird das Wort شهوة  (šahwa) verwendet, das in den meisten Qurân-Über­setzungen an diesen Stellen als sexuelles Begehren (z.B. „Sinnenlust“) verstanden und übersetzt wird, anstatt besser mit „Begehren“, „Anliegen“, „Ansinnen“. „Habgier“, „Habsucht“, vielleicht auch „Profitgier“.

Der Sodom-Mythos, ein in der christlichen patristischen Theologie ausgearbeitetes Konstrukt, überfrachtet das Denken mit so viel Unlogik, Realitätsferne und unwissenschaftlichen Annahmen und zwingt uns in eine Art Märchenwelt, dass er schon aus diesen Gründen inakzeptabel, lächer­lich ist.

Lots Tadel der sozialen und rechtlichen Schlechterstellung der Frauen in dem Volk

Unsere Argumentation basiert darauf, dass die Männer im Volk eine bevorzugte Stellung in der sozialen Ordnung und im Rechtssytem hatten, was offenbar auch von den Frauen akzeptiert wurde. So haben die Verse, die überwiegend in einer Weise verstanden werden, dass Männer zu anderen Männern wegen sexueller Anliegen kommen, die Bedeutung, dass sie zu ihnen kommen, um ihre materiellen Anliegen und Erwartungen voranzubringen, weil das auch nur durch die priviligierten Männer erfolgen kann, ihnen eine Frau  dabei also wegen ihrer sozialen und rechtlichen Minderstellung nicht helfen kann. Und Lot tadelt sie, die Männer und Frauen, dafür und zielt dabei auf Änderung dieser Zustände.

Dafür spricht ebenfalls der Vorgang, bei dem Lot dem Volk, den Männern und Frauen, seine Töchter anbot, als die Leute (15:67-72) empört zu ihm kamen, weil er Fremden, nun seine Gäste, das ihnen zustehende Gast­recht gewährte. Er tat das sicherlich nicht, um ihnen seine Töchter irgendwelchen sexuellen Misshand­lungen auszuliefern, sondern um dem Volk damit zu gewährleisten, dass weder er noch seine Gäste irgend­welche illegalen Pläne verfolgen.

(54:37)

. Und sie suchten, ihn von seinen Gästen abspenstig [râwadû-hu ʿan Daifi-hi] zu machen. Da blendeten Wir ihre Augen [und sprachen]: "Kostet nun Meine Strafe und Meine Warnung."

Die Aussage des Qur’âns, dass die Leute Lot von seinen Gästen abspenstig zu machen suchten, und die Betonung Lots, dass die Gesandten seine Gäste seien (15:68), vor denen sie ihn nicht beschämen sollten, stellt ganz klar, worum es dem Volk geht: Es will Lot dazu bringen, seinen Gästen das ihnen zustehende Gastrecht zu entziehen, und es will Lot auf diese Weise 'Schande antun' (15:68) und ihn 'in Schmach stürzen' (15:69). Damit tritt es ein in jener Zeit fundamentales Recht des Fremden - besonders in Gebieten mit unsicheren Wegen und feindseligen Gruppierungen - mit den Füßen und folgt blind nur seinen gegen Lot gerichteten Absichten. Aus diesem Grunde betont auch Maulana Muhammad Ali, The Holy Qur’ân, im Zusam­men­hang mit (15:69) dies auf S. 515:

„[...] Lot war ein Fremder unter den Sodomitern und, wie der Vers zeigt, war es ihm vom Volk verboten worden, Fremde als Gäste aufzunehmen oder ihnen Schutz zu geben.“

Unter dem Stichwort 'Gastfreundschaft' führt Reclams Bibellexikon, Seite 154 f., über das Gastrecht in der Zeit des Alten Testaments Folgendes an:

"[...] Der Reisende war in der Antike vielfach auf die G. [Gastfreundschaft] angewiesen, die ihm unentgeltlich Unterkunft und Verpflegung bot. Sie zu verweigern galt als Schande [...], sie zu verletzen als Frevel [...]."

Vor allem aber verweist die Antwort der Leute (11:79), als Lot ihnen seine Töchter anbietet, auf etwas ande­res als in der traditionellen Interpretation behauptet, sie sagen: "Du weißt doch, dass wir kein Recht [= mâ la-nâ fî banâti-ka min Haqq, nicht: sexuelles Interesse] in Bezug auf deine Töchter haben, und du weißt auch, was wir wollen."

Hans Wehr gibt in seinem Wörterbuch für das Wort Haqq in Verbindung mit der Präposition auf Seite 276 die folgenden Bedeutungen an: "Recht, Anrecht, Anspruch, Rechtsanspruch ( auf)."

Soweit Lots Töchter unverheiratet sind, haben die Leute grundsätzlich ein Recht darauf, sie zu ehelichen. Nur in dem Fall, dass diese bereits verlobt oder verheiratet sind, haben sie es nicht und gibt ihre Antwort einen Sinn. Doch muss wohl ausgeschlossen werden, dass Lot ihnen seine verheirateten oder verlobten Töchter zur Ehe anbietet, weil er damit gegen Gebote Allahs verstoßen würde und seiner Aufgabe, die Menschen auf den rechten Weg zu führen, nicht gerecht werden würde.

Ganz generell spricht gegen die Annahme, dass das Volk gegenüber Lots Gästen sexuelle Absichten hege, der Wortlaut des Qur’âns, der eine solche Aussage nicht macht. Zudem ist die Antwort der Gesandten an Lot (11:81): "Sie sollen dich [= Lot] nicht erreichen [mit ihren bösen Absichten]", d.h. das Volk verfolgt gegen­über Lot bestimmte Absichten, nicht aber gegenüber den Gesandten. Wenn Lot vertrieben wird, kann er als Folge allerdings das Gastrecht gegenüber seinen Besuchern nicht mehr ausüben. Deshalb fühlt er sich ihret­wegen besorgt und hilflos (11:77).

Die naheliegendste Erklärung auf Grund des Wortlautes des Qur’âns ist sicherlich, dass Lot versucht, sein Wohlverhalten und das seiner Gäste mit dieser Geste zu bekräftigen und das Recht von Fremden auf Gast­freundschaft zu betonen, und er dabei an die Einsicht vernünftiger Menschen appelliert (11:78). Außerdem betont er mit dem Hinweis auf seine Töchter die Gleichwertigkeit von Frauen und Männern auch als Garanten.

Denn, wenn die Leute sagen, dass sie auf die Töchter Lots keinen Rechtsanspruch haben, als Lot sie ihnen als Austausch für die Sicherheit seiner Gäste anbietet, bedeutet das auch, dass die Frauen in ihren Augen nicht rechtsfähig bzw. nicht ausreichend rechtsfähig sind, und daher nicht als Garanten akzeptiert werden können, Frauen bei ihnen offenbar rechtlos, wenigstens von minderem Rechtsstatus sind.

Die Vorwürfe an das Volk Lots

Das Kommen zu Männern

Eine Art Alleinstellungsmerkmal für das Volk Lots ist der Vorwurf, zu Männern zu kommen.

Aber es gibt kein generelles Verbot, dass Männer zu Männern kommen, es ist sogar alltägliches Geschehen, wenn wir z.B. in die Moschee zum Gebet gehen, zum Einkaufen (in Geschäfte, in denen vorrangig männ­liche Angestellte sind), zum Sport (Sportarten mit Männern), in die Verwaltung, zum Arzt, zum Stammtisch usw., usf. Es nicht nur erlaubt, sondern gegebenenfalls sogar geboten.

In mehreren Versen wirft der Qur'ân dem Volk Lots vor, zu Männern zu kommen:
(7:80-81)
(26:165-166)
(27:54-55)
(29:27-28)
Die unterstrichenen Versangaben verwenden zusätzlich den Ausdruck sahwatan - bei einem Begehren.

Im Vers (26:166):

wa taḏarûn mâ ẖalaqa la-kum rabbu-kum min azwâǧi-kum bal antum qaum ʿâdûn
und lasset, was euer Herr an euren Partnern für euch geschaffen hat. Nein, ihr seid Leute, die Übertretungen begehen

gibt der Qur'ân den Grund hierfür an: „ihr lasset, was euer Herr von euren Partnern für euch geschaffen hat“, d.h. ihr lasst eure Partner bei dem, was ihr tun wollt, beiseite, berücksichtigt sie nicht, obwohl sie doch als Part­ner für euch erschaffen wurden.

Andere Vorwürfe gegen Lots Volk

ẖabâ’iṯ Schlechtigkeiten - (21:74)
Hans Wehr: Schlechtigkeit; Bosheit. Verwendung im Qur'ân  2 mal.
qaum sû’in
ein böses Volk - (21:74)
Hans Wehr: schlecht sein, bösartig sein. Verwendung im Qur'ân  2 mal, das Wort sû’: 60 mal.
fâsiqîn
Frevler -(21:74), yafsuqûna sie sündigten - (29:34)
Hans Wehr: fasaqa = abirren, sündhaft, unmoralisch handeln, ausschweifend leben, Unzucht treiben
Verwendung im Qur'ân  37 mal (Singular und Plural).
as-sayyi’ât
böse Taten - (11: 78)
Muhammad 'Ali: Kommentar 565 auf S. 198, 199; sayyi'a oder ' bedeutet sowohl eine böse Tat als auch eine böse Zuneigung (LL)....
Hans Wehr: Vergehen, Missetat. Verwendung im Qur'ân  58 mal.
kaḏḏdabat
Und Lots Volk [qaum lûT] zieh die Gesandten der Lüge - (26:160), (54:33).
Hans Wehr: der Lüge beschuldigen, für einen Lügner erklären; leugnen. Verwendung im Qur'ân 166 mal (alle Verformen´).
qaum musrifûn 
ein das Maß überschreitendes Volk - (7:81), (51:34). Verwendung im Qur'ân 15 mal
Hans Wehr: das normale Maß weit überschreitend, unmäßig verschwenderisch.
qaum ʿâdûn
ein übertretendes Volk - (26:166)
Hans Wehr: das Maß überschreiten, hinausgehen (über). Verwendung im Qur'ân 3 mal
qaum tajhalûn
ein unwissendes Volk - (27:55). Verwendung im Qur'ân 5 mal.
Hans Wehr: dumm sein, unwissend sein; unvernünftig, töricht sein.
taqTaʿûna`s-sabîl
ihr zerschneidet den Weg (Unterbrechung der Handelsrouten, Wegelagerei)  (29:29)
Hans Wehr: schneiden, abschneiden; trennen; Straßenraub betreiben, Verwendung im Qur'ân 1 mal.
munkar
in eurer Versammlung [nâdî-kum] begeht ihr Verwerfliches [munkar] - (29:29)
Hans Wehr: verleugnet, nicht anerkannt; verworfen, verabscheut. Verwendung im Qur'ân 16 mal.
qaum mufsidîn
ein Volk, das Unheil anrichtet - (29:30)
Hans Wehr: fasâd - Verdorbenheit, Zersetzung, Lasterhaftigkeit, Korruption. Verwendung des Aus­drucks im Qur'ân 1 mal, das Partizip 18 mal..
qaum mujrimîn
ein sündiges Volk (15:58)
Hans Wehr: Straftäter, Übeltäter. Verwendung des Aus­drucks im Qur'ân 1 mal, das Partizip 55 mal.
Zâlimîn
Missetäter - (29:31), (11:83)
Hans Wehr: ungerecht, tyrannisch; Unterdrücker; Frevler. Verwendung des Aus­drucks im Qur'ân 126 mal, (als Partizip im Singular und Plural).
yamtarûn 
sie zweifelten - (15:63)
Hans Wehr: zweifeln (an). Verwendung des Verbums und Partizips im Qur'ân 9 mal.
râwadû
sie machten (Lot) von (seinen Gästen, d.h. deren Gastrecht) abspenstig - (54:37)
Hans Wehr: abspenstig zu machen suchen (ʿan h - jemanden von), zu verführen suchen ( - eine Frau, ʿan nafsi-hi - jemanden verführen)), zu verlocken suchen (ʿalâ h - jemanden für etwas), Verwendung im Qur'ân 1 mal im Sinne von „abspenstig zu machen suchen“.

Sexuelle Partnerschaften im Qur'ân

Der Qur'ân kennt auch außerhalb der Geschichte von Lot und seinem Volk kein Verbot von Homosexualität  oder homosexuellen Partnerschaften, ganz im Gegenteil.

Im Qur'ân (30:21), einem zentralen Vers zu dieser Frage, setzt Allah alle zwischenmenschlichen Partner-schaften auf eine und dieselbe  Stufe – ohne Ausnahmen und Einschränkungen. In diesem Vers werden alle Männer und Frauen angesprochen und nicht - wie es in manchen Übersetzungen zum Ausdruck kommt - nur die Männer.

وَمِنْ آيَاتِهِ أَنْ خَلَقَ لَكُم مِّنْ أَنفُسِكُمْ أَزْوَاجًا لِّتَسْكُنُوا إِلَيْهَا وَجَعَلَ بَيْنَكُم مَّوَدَّةً وَرَحْمَةً إِنَّ فِي ذَالِكَ لَآيَاتٍ لِّقَوْمٍ يَتَفَكَّرُونَ
„Und unter Seinen Zeichen ist dies, dass Er (männliche bzw. weibliche) Partner (ازواج) für euch (Männer und Frauen) aus euch selber erschuf, auf dass ihr (Männer und Frauen) Frieden bei ihnen findet, und Er hat Liebe und Zärtlichkeit zwischen euch gesetzt. Hierin sind wahrlich Zeichen für ein Volk, das nachdenkt.“

Im Qur'ân (30:21) beschreibt Allah folglich alle sexuellen Partnerschaften unter den Menschen als gleich­wer­tige, wünschenswerte, von Ihm so gewollte Verbindungen, wenn man nicht willkürlich einfache Regeln und Mög­lich­keiten der arabischen Sprache missachtet.

Er bezeichnet sie als „Seine Zeichen“ und sagt im letzten Teil des Verses, dass es Zeichen für Leute seien, die nachdenken, und das bedeutet auch, kritisch nachdenken, hinterfragen, was den Inhalt des Verses und seine Auswirkungen auf das Leben der Menschen betrifft.

Mit den Worten „dass Er (männliche bzw. weibliche) Partner (ازواج) für euch (Männer und Frauen) aus euch  selber (Männern und Frauen) erschuf“ verweist der Qur'ân zwar auf die Tatsache, dass Menschen in hetero­sexuellen Verbindungen gezeugt und geboren werden, aber er legt sie nicht als alleingül­tige Form der Part­ner­schaften fest.

Der verwendete Plural أَزْوَاجً  (azwâǧ) – Partner, Gatten, Gattinnen in dem Vers ist der Plural sowohl von زوج (zauǧ, m. – Teil eines Paares, Paar, Partner, Partnerin ...) als auch زوجة  (zauǧa, f. – Partnerin, Gattin, ..), er ist somit geschlechtsneutral, umfasst beide Geschlechter. Ebenso spricht Allah hier zu allen Menschen, unab­hängig von ihrem Geschlecht, da das Arabische die männliche Form verwendet, wenn Frauen und Männer angesprochen werden.

Der Ausdruck إِلَيْهَا – ilay-hâ – (hier wiedergegeben mit: bei ihnen) ist ein Femininum Singular und bezieht sich auf das vorstehende Wort أَزْوَاجًا  - azwâǧan – (Partner, Partnerinnen), ein arabisches Wort in gebroche­ner Pluralform. Dazu Carl Brockelmann, Arabische Grammatik, S. 94 f.: „...Auch die sog. (= so genannten) gebro­chen­en Plurale ... sind eigentlich bloß Kollektivformen. Die Sprache betrachtet sie als Singulare generis feminini und konstruiert sie demgemäß.“

Zudem bezeichnet der Qur’ân im Vers (4:21) den Ehebund als mîṯâqan galîZan – als einen festen Bund bzw. Vertrag.

Somit sind auch alle Regeln für einen نكاح  (nikâH = Ehe (-vertrag/-bund) bzw. زواج  (zawâǧ = Ehe, Partner-schaft) für alle gültig. Denn dadurch werden die Menschen erst zu Partnern (ازواج , azwâǧ). Zumal es nir­gend­wo im Qur'ân ein Heiratsverbot gibt zwischen Menschen desselben Geschlechts. Ebenso ist und bleibt ein Ehebündnis auch ohne Nachkommen gültig, Qur’ân Verse (42: 49, 50):

Allahs ist das Königreich der Himmel und der Erde. Er schafft, was Ihm beliebt. Er beschert Mädchen, wem Er will, und Er beschert Knaben, wem Er will:
Oder Er gibt beides, Knaben und Mädchen; oder Er macht unfruchtbar, wen Er will; Er ist allwissend (und) bestimmt das Maß

Folglich sind unter einem نكاح  (nikâH) nicht-heterosexuelle Verbindungen ebenso legal wie heterosexuelle.
الحمد لله.

Jeder und jede Nicht-Heterosexuelle, Muslima oder Muslim, sollte folglich die von Allah für sie/ihn so gewoll­te sexuelle Disposition dankbar akzeptieren und ihr/sein Leben danach ausrichten.

Der Vers beschreibt hier eine Eheform, die neuerdings im Deutschen als „Ehe für alle“ bezeichnet wird.

Der Sodom-Mythos und seine Geschichte

Über die Lage oder Überreste der Stadt Sodom gibt es keine wissenschaftlichen Erkenntnisse. Wie schon zuvor zitiert: Im Archäologisches Bibel-Lexikon von 1991, Hrsg. Avraham Negev, S. 412, heißt es dazu:
„Die Versuche S. [= Sodom] zu lokalisieren, blieben also bislang ohne Erfolg. Es wurde am Süd- oder Nord­ende des Toten Meeres vermutet und sogar auf seinem Boden. Der Name „S.“ [= Sodom] hat sich in dem arabischen Gebel Usdum, einem Bergrücken aus Salz nahe dem Südwestufer des Toten Meeres erhalten.“

Mit anderen  Worten: Wir wissen nichts über die Stadt, und da selbst ihre Lage unbekannt ist, gibt es auch keine Schriftzeugnisse oder sonstigen Funde, die über das soziale Leben Auskunft geben könnten. Was über sie und ihre Bewohner später erzählt wird, ist damit nichts als bloße Spekulation, willkürliche Phantasie.

Die älteste Bezugnahme auf Lot und seine Stadt ist im Alten Testament der Bibel zu finden. Im Neuen Testa­ment spricht Jesus nur von der fehlenden Rücksichtnahme auf das Gastrecht dort (Matthäus 10, 11 - 15, Matthäus 11, 23 – 24, Lukas 10, 10 - 12).

Die Vorstellung, dass die Bevölkerung in Lots Stadt homosexuelle Ansinnen an Lots Besucher richtete, er­wies sich als eine sehr phantasievolle, aber falsche Interpretation eines einzigen Wortes in nur einem Vers im 1. Buch Mose (1 Mose 19, 5, = Gen. xix. 5, siehe Derrick Sherwin Bailey, Homosexuality and Western Christian Tradition, 1955, auf Seite 1 - 8). Bailey (1910 - 1984) war ein Anglikanischer Theologe mit über­zeugenden und klaren linguistischen und kontextuellen Argumenten. Er erwähnt auch, dass alle Bezug­nahmen auf Lots Stadt in den anderen Büchern des Alten Testaments nie von einem sexuellen Fehlverhalten der Menschen in Lots Stadt sprechen.

In der englisch-sprachigen Wikipedia heißt es u.a. über Bailey:
„... Anerkannt als führender Experte der Kirche für Sexualethik, ... halfen Baileys Schriften der Church of England, auf die theologische Frage der Homosexualität, auf die Homosexuellen selbst sowie auf die Gesetze Englands zu reagieren. Diese Periode von 1954 bis 1955 im Moral Welfare Council lieferte wichtige konzeptionelle Leitlinien für spätere Diskussionen über Homosexualität, nicht nur in der Church of England, sondern im gesamten Christentum“.

Zum zuvor genannten Vers im Alten Testament sagt Derrick Sherwin Bailey, Homosexuality and the Western Christian Tradition, S. 2:

„Der Vers, der bisher oft als Hinweis auf homosexuelles Ansinnen verstanden wurde, ist 1 Mose, 19, 5:
5 Sie riefen Lot und sagten: 'Wo sind die Männer, die heute abend zu dir gekommen sind? Bringe sie zu uns heraus, damit wir sie erkennen!'

Weiter  sagt Derrick Sherwin Bailey, Homosexuality and the Western Christian Tradition:
"Die herkömmliche Auffassung von der Sünde Sodoms [...] rührt von der Tatsache her, dass das Wort, das hier mit 'erkennen' (yâdha') übersetzt ist, 'geschlechtlich verkehren' bedeuten kann. Ist das in diesem Passus gemeint?"

Er beantwortet diese Frage folgendermaßen:­
"Das [hebräische] Verb yâdha' kommt sehr häufig im Alten Testament vor [in der Fußnote: Nach F. Brown, S. R. Driver und C. A. Briggs, A Hebrew and English Lexicon of the Old Testament (Oxford, 1952), 943 mal], doch mit Ausnahme dieses Textes und seiner unzweifelhaften Ableitung in Richter 19, 22 wird es nur zehnmal (ohne Einschränkung) gebraucht, um Geschlechtsverkehr zu bezeichnen [in der Fußnote: 1 Mose 4, 1, 17, 25; 19, 8; 24, 16; 38, 26; Richter 11, 39; 19, 25; 1 Samuel 1, 19; 1 Könige 1, 4.]. In Verbindung mit mishkâbh, das in diesem Zusammenhang den Vorgang des Liegens bezeichnet, kommt yâdha' an fünf weiteren Stellen vor [in der Fußnote: 4 Mose 31, 17, 18, 35; Richter 21, 11 [...], 12 [...]  ]. Auf der anderen Seite findet man shâkhabh (von dem mishkâbh herkommt) etwa fünfzigmal in der Bedeutung 'liegen' im geschlechtlichen Sinne. Während yâdha' sich immer auf heterosexuellen Geschlechtsverkehr bezieht (wenn man zunächst die kontroversen Stellen 1 Mose 19, 5 und Richter 19, 22 außer Betracht lässt), wird shâkhabh überdies sowohl für homosexuellen Geschlechtsverkehr als auch den mit Tieren verwendet zusätzlich zu dem zwischen Mann und Frau.

So findet man yâdha' also nur ausnahmsweise im geschlechtlichen Sinne gebraucht [...].

Linguistische Betrachtungen allein unterstützen daher [...] die Ansicht], dass es hier nichts weiter als ‘kennen­lernen’ bedeuten kann. Warum wurde dann aber eine anscheinend vernünftige Forderung auf so heftige Art und Weise vorgebracht? Was für eine Schlechtigkeit war es, die Lot erwartete und von der er die Sodomiter abbringen wollte? [...] Unsere Unkenntnis der lokalen Gegebenheiten und sozialen Verhältnisse lässt uns keine andere Möglichkeit als die Motive zu erraten, die dem Verhalten der Sodomiter zugrunde liegen; da aber yâdha' meistens ‘kennenlernen’ bedeutet, kann die Forderung, die Besucher, die Lot bewirtete, ‘zu erkennen’, gut einen ernsthaften Bruch der Regeln des Gastrechts [wörtlich: hospitality = Gastfreundschaft] eingeschlossen haben. [...]“

Der Sodom-Mythos: Wie und wann bildete er sich?

In den Buch 'Islam und Homosexualität', Teil 1, wird diese Frage ausführlicher beantwortet. An dieser Stelle soll es hierzu nur kurze Hinweise geben.

Auch Bailey beschäftigte sich damit. Bailey, auf S. 23:
"In kürzerer Form bringt Josephus (37/38 - ca. 96) dieselbe Ansicht vor. In der Beschreibung der Vernichtung Sodoms in seinen Antiquitates sagt er:

Ant. I. xi. i [194 - 195]:
'Um diese Zeit wurden die Sodomiter stolz wegen ihrer Reichtümer und ihres großen Wohlstandes: Sie wur­den ungerecht gegenüber den Menschen, ehrfurchtslos gegenüber Gott ..., sie hassten Fremde und schän­deten sich mit sodomitischen Praktiken, und war daher sehr ungehalten über sie und beschloss, sie für ihren Stolz zu bestrafen ...'

Später verrät seine Sprache in demselben Bericht den Einfluss des zeitgenössischen Lebens:
Ant. I. xi. 3 [200]:
'Als nun die Sodomiter sahen, dass die Jünglinge [die Engel] von schönem Aussehen waren, und dies in außerordentlichem Maße, ... entschlossen sie sich, sich an diesen schönen Knaben mit Zwang und Gewalt zu erfreuen...'.

Nicht alle Bezugnahmen auf Sodom sind jedoch selbst zu dieser Zeit nicht so deutlich. [...] Aber es gibt gute Gründe für die Meinung, dass man gegen Ende des ersten Jahrhunderts n. Chr. in weiten Kreisen unter den Juden die Sünde Sodoms mit homosexuellen Praktiken gleichsetzte."

Die hier geäußerte Vorstellung, dass die zu Lot Gesandten 'Jünglinge [die Engel] von schönem Aussehen wären, und dies in außerordentlichem Maße' begegnet uns in alten Qur'ân-Kommentaren wieder als Äuße­rung von Lots Frau.

Zu der Frage, wie die Deutungen der Bibel in den hellenistisch-jüdischen Kreisen, namentlich auch durch Philon, einzuordnen sind, äußert sich Karlheinz Deschner in dem Buch: Abermals krähte der Hahn. Auf Seite 314 f. heißt es im Zusammenhang mit der Vorgehensweise der älteren Kirchenväter, dass sie, "was in Wirk­lichkeit aber gar nicht darin stand, erst durch meist haarsträubende Allegorese hineindeuten, womit frei­lich die jüdischen Hellenisten, namentlich Aristobulos und noch mehr Philon [von Alexandrien, 15/10 v. Chr.; -nach 40 n. Chr. ], den Christen vorangegangen waren", um auf diese Weise Vorstellungen der Stoiker und anderer in biblische Geschichten hineinzulesen.“

Weiter Bailey, Seite 25 – 26:
"Augustinus, de civ. Dei, xvi. 30:
'... die ruchlose Stadt, wo sich das Brauchtum der Sodomie so weit verbreitet hat, wie anderswo Gesetze anderer Arten von Schlechtigkeit.'“
Augustinus, Bischof und Kirchenlehrer, lebte von 354 bis 430.

Const. Apost. vii. 2 [im 4. Jahrhundert verfasst]:
''Ihr sollt nicht Knaben verführen': denn diese Schlechtigkeit ist gegen die Natur und entstammt von Sodom ...'.

Ungeachtet gelegentlicher Anspielungen auf seine Arroganz und Verletzung des Gastrechts [wörtlich: inhospitality], auf den Wohlstand und Überfluss, von denen man annahm, dass sie zu seinem Fall geführt haben, hatte das Sodom des Alten Testaments und der Apokryphen keinen Platz im Denken der frühen Kirche, sondern nur das Sodom von Philo und Josephus, in dem homosexuelles Laster und besonders jenes mit ‘Knabenliebe’ verbundene als vorherrschend angesehen wurde. [...] auf der anderen Seite lagen sie ganz außerhalb des Hauptstroms der rabbinischen Tradition und wurden niemals vom Judentum anerkannt, was den fast zu vernachlässigenden Einfluss der neuen Theorie auf den Talmud und den Midrasch erklärt."

Bailey belegt seine Auffassung mit einer Untersuchung der Bezugnahmen auf Sodom in Büchern des Alten und den Schriften des Neuen Testaments. In den Evangelien ist für Jesus noch Missachtung des Gastrechts die Sünde Sodoms. Erst in dem späten - um 120 n. Chr. entstandenen, aber nicht vom Jünger Petrus stammenden - 2. Petrusbrief sowie in dem um 100 entstandenen sogenannten Judasbrief von einem eben­falls unbekannten Verfasser kommen erkennbare Anspielungen auf homosexuelles Verhalten vor.

Der Grund und die Herkunft für diese Interpretation ist nicht genau auszumachen. Die frühesten An­spie­lungen auf sexuelle (heterosexuelle) Vergehen finden sich in den ab dem 2. Jahrhundert entstandenen Pseudoepigraphen des Alten Testaments, und erste homosexuelle Andeutungen liefert erst eines der Henoch-Bücher um ca 50 v. Chr. Sie verbreitete sich im hellenistischen Milieu jüdischer Kreise und diente dann in Verbindung mit der Auseinandersetzung mit der vorherrschenden hellenistischen Denk- und Lebens­weise auch der Abgrenzung. Bei hellenistisch-jüdischen Schriftstellern wie Philo und Josephus zu Beginn der christ­lichen Zeitrechnung ist diese Vorstellung bereits ausgeprägt zu finden - wenn es nicht, wie andere Stellen auch, 'Nachbesserungen' späterer Redaktoren sind. Jedenfalls bemühte Philo sich, die Sittenlehre der griechischen Stoa in das 1. und 2. Buch Mose hineinzulesen, während Josephus seine letzten Jahre als kaiserlicher Pensionär in Rom verbrachte und die biblische Geschichte Lesern griechischer Bildung nahe­bringen wollte. Die bei beiden anzutreffende Auffassung liegt außerhalb der rabbinischen Tradition. In der rabbinischen Literatur kommt eine homosexuelle Deutung so gut wie nicht vor, und sie erlangte auch später keinen Einfluss auf sie.

Dagegen beherrschte die bei Philo und Josephus zu findene Interpretation als homosexuelles Vergehen, besonders Knabenliebe, die Kirchenväter in der frühen Zeit der Kirche, während die ursprüngliche Schrift­tradition ganz in den Hintergrund tritt. Es tauchte auch die Vorstellung auf, dass die Sodomiter mit ihren Frauen anal verkehrten. Diese Ideen finden wir später bei den Muslimen als christliches 'Erbe' wieder.

Der negativen Haltung zur Sexualität bei den christlichen Kirchenvätern kam diese Deutung der Sodom-Erzäh­lung entgegen, sie passte nahtlos in ihre religiöse Vorstellungswelt, und so übernahmen sie sie beden­ken­los und unter Vernachlässigung der Schriftzeugnisse des Alten und des Neuen Testaments. Sie über­deckten - wie auch in anderen Fragen - den Wortlaut der Schrift mit eingebildeten Trugbildern, anstatt den Wortlaut als Ausgangspunkt einer Interpretation zu nehmen - eine nicht nur bei christlichen Theologen anzu­tref­fende Vorgehensweise.

Die einzige alte Quelle, die es zu Lot und den Bewohnern von Sodom gibt, ist die Erzählung über ihn im Alten Testament. Wenn wir Genaueres über die soziale und religiöse Situation zur Zeit Lots erfahren wollen, um die spärlichen Mitteilungen der Bibel im richtigen Zusammenhang zu sehen und einzuordnen, können wir nur auf Bekanntes über lokal und zeitlich nahegelegene Kulturen und Völker heranziehen. Andere Quellen gibt es nicht.

Die Aussage, dass Lot auf seine Töchter verweist, verstehen viele muslimische Kommentatoren als Argu­ment für ihre Vermutung, dass das Volk die Gesandten zur Befriedigung ihrer sexuellen Absichten von Lot fordert. Sie gehen davon aus, dass die Gesandten Engel in der Gestalt von Männern sind. Manche sagen, dass sie junge Männer, andere, dass sie gutaussehende junge Männer seien (z. B. Yusuf Ali, The Holy Quran, Band 1, Seite 649 zu 15:67; ibn katir, Band 2, Seite 451 zu 11:69-73, Seite 453 zu 11:77-79, Seite 554 zu 15:61-64; Muhammad Asad, Seite 327 zu 11:77, S. 389 zu 15:67). Diese Annahme ist frühestens bei dem jüdischen Schriftsteller Josephus nachweisbar, der damit einer Tendenz folgt, die außerhalb der Schriften des Alten Testaments, des rabbinischen Schrifttums und damit außerhalb der vorherrschenden religiösen Tradition des Judentums liegt und deren Ursprung nicht bekannt ist. Sie hat sich über Strömungen religiöser Tradition bis zu den Muslimen erhalten.

Über das Aussehen oder das Alter der Gesandten gibt es im Qur’ân keinen einzigen Hinweis. Jede dahin­gehende Äußerung lässt sich nicht aus ihm ableiten und ist reine Spekulation, phantasievolle Vermutung.

Derrick Sherwin Bailey weist in seinem Buch 'Homosexuality and The Western Christian Tradition' nach, dass die Sodom-Erzählung des Alten Testaments sich nicht auf homosexuelles Ansinnen der Bewohner von Sodom bezieht. Das dort verwendete Wort 'erkennen' steht im Alten Testament so gut wie immer für 'kennen­lernen'. Nur wenige Male bedeutet es heterosexuellen, nicht jedoch homosexuellen  Geschlechtsverkehr. Lot war ein Fremder in der Stadt, und die Einwohner waren daher besonders miss­trauisch seinen Gästen gegen­über, die sie genauer kennenlernen wollten. Eines ihrer Vergehen bestand darin, dass sie das in unsicheren Wüstengebieten lebenswichtige Gastrecht nicht als selbstverständliches Grundrecht eines Fremden betrachteten und sich dementsprechend verhielten.

Es gibt weiterhin Autoren, die ein sexuelles Element in der Sodom-Erzählung sehen, und zwar als Nieder­schlag der Polemik gegen männliche und weibliche Tempelprostitution an kanaanäischen Heilig­tümern, die damalige Zuhörer sofort erkannt hätten. Auch in diesem Sinne ist die eigentliche Sünde Sodoms der Götzen­dienst und nicht homosexuelles Verhalten an sich, sondern als Ausdruck heiliger Prostitution im Zusammen­hang mit den Fruchtbarkeitskulten.

Bailey belegt seine Auffassung mit einer Untersuchung der Bezugnahmen auf Sodom in Büchern des Alten und den Schriften des Neuen Testaments. In den kanonischen Evangelien ist für Jesus noch Missachtung des Gastrechts die Sünde Sodoms. Erst in dem späten - um 120 n. Chr. entstandenen, aber nicht vom Jün­ger Petrus stammenden - 2. Petrusbrief sowie in dem um 100 entstandenen sogenannten Judasbrief von ei­nem eben­falls unbekannten Verfasser kommen erkennbare Anspielungen auf homosexuelles Verhalten vor.

Wie gelangte dieser vorislamische „Sodom-Mythos“ zu den Muslimen?

Der Einfluss der mawâlî, konvertierter Christen und Juden, auf die Muslime

In der Literatur finden wir einige eindrucksvolle Beschreibungen über deren zahlreichen Aktivitäten in der Frühzeit der muslimischen Geschichte.

Alfred von Kremer, Kulturgeschichte des Orients, (1874/79; Band 2), Seite 158 f.:
"Die Clienten [= mawâlî] verstanden es in der That, die Araber zu überholen, denn sie waren die ersten, welche die gelehrten Studien pflegten und sich hiedurch ein immer zunehmendes Ansehen errangen. Sie aktivirten mit besonderer Vorliebe die theologischen und juridischen Studien und vermittelten den Import fremder Ideen in den Islam. So kam durch jüdische Proselyten die so sehr an den Talmud erinnernde Gewohn­heit des Commentirens des heiligen Buches, die Vorliebe für die Tradition und deren Sammlung, der spitzfindige in Kleinigkeiten so gerne sich breit machende und wichtig thuende Ton der Schulmeisterei in die arabische Literatur."

Ähnlich Samuel Rosenblatt, Rabbinic Legends in Hadîth, The Moslem World 35 (1945), Seite 237-252, schreibt u.a. auf Seite 251, 252:
„[...] Einige wenigstens haben eine deutliche christliche Färbung und müssen in den Gesichtskreis der Muslime durch die Schriften des Klerus der Syrischen Kirche gekommen sein, der es seinerseits von den Juden übernahm. Es bleibt jedoch genug, das man nur als das Ergebnis persönlichen Kontakts mit Juden erklä­ren kann, von denen es während des neunten und zehnten Jahrhunderts der üblichen Zeitrechnung, dem goldenen Zeitalter der arabischen Kultur, eine breite, fest gegründete und gut informierte arabisch spre­chende Gemeinschaft im Zentrum der mohammedanische Zivilisation gab, nämlich im Irak und insbesondere in seiner Hauptstadt, dem Sitz des Kalifats, Bagdad, wo man leicht von den maßgeblichen Vertretern und Interpreten des Judentums die erforderlichen Informationen über seine Überlieferungen erhalten konnte. [...] Die mohammedanischen Legenden über biblische Gestalten können daher nicht als das Resultat eines unab­hängigen Studiums des Alten Testaments seitens der Muslime entstanden sein, sondern sie müssen kör­perlich von rabbinischer Überlieferung übernommen worden sein. Dass die Autorität der Juden im Hin­blick auf diese Überlieferungen den Muslimen uneingeschränkt akzeptabel war, wird ausdrücklich in fast allen Werken mohammedanischen Hadîths festgestellt [In der Fußnote: Buchari 60, 50; Ahmad ibn Hanbal II, S. 159, 202, 474, 502, und III, S. 13, 46, und IV, S. 437, 444 [...] ], und dass jüdische Gelehrte zu diesem Zweck konsultiert wurden, wird durch Tabari und andere bezeugt. [...]."

Die موالي (= mawâlî, Plural von: maulâ), frühere Christen und Juden, die viele Jahrhunderte nach Lot lebten, bildeten sehr schnell die Mehrheit unter den frühen Muslimen. Sie wussten von den Zuständen in Lots Stadt genau so wenig wie wir heute, da alle historischen Belege darüber fehlten.

Und alle weiteren Menschen, die in der folgenden Zeit konvertierten, lebten ebenso in Ländern mit jüdisch-christ­licher Prägung, waren daher zuvor in aller Regel Christen und Juden, und das vermeintliche Wissen, das ein maulâ verkündete, war ja auch das, was alle anderen ebenfalls hatten, Bestandteil der Lehre ihrer vor­ma­ligen Religion. Und so war das muslimische Denken durch sie vorprägend und vorgeprägt.

Ein maulâ zu sein, ist an sich kein negativer Tatbestand oder ein grundsätzlicher Makel, wenn sich - wie sich in der Unter­suchung der Qur'ân-Kommentare noch zeigen wird -, die Autoren an den Wortlaut des Qur'âns halten und keine phantasievollen Ergänzungen versuchen. Ganz anders verhält es sich jedoch, wenn spätere muslimische Gelehrte ihnen „Anleihen bei den ahlu`l-kitāb (Christen und Juden) vorwarfen“ oder „Rückgriff auf christliche und jüdische Quellen“, worin sich erkennbar ein gewisser Vorbehalt ausdrückt. Aber mit diesem Urteil ist der bereits

Viele dieser mawâlî sind in Bezug auf ihre Überlieferungen umstritten. Aber unabhängig davon beein­druckten und beeinflussten sie ihre muslimische Umwelt fast unumkehrbar mit ihrem „Wissen“, das sie in ihrer früheren Zeit vor ihrer Konver­tierung erwarben und das für sie Grundlage vieler ihrer Deutungen ist. Nachdem sich der mus­limische Ein­fluss über Syrien und den Irak ausgebreitet hatte, nahmen zahlreiche der dort lebenden Menschen den Islam an. In diesen Ländern gab es die christlichen Kirchen und Gruppen von Juden. Neben einfachen Gäubigen gab es in der organisierten Kirche u.a. Gemeindeverantwortliche, Priester, Bischöfe, Mönche, Lehrer und andere, die einerseits eine religiöse Unterweisung erhielten und die andererseits, wenn sie ihre Religion wechselten, ihren alten Job und damit ihre Einkünfte verloren. Anders als die Mehrheit der arabischen Muslime genossen einige zuvor eine intensive religiöse Ausbildung und brachten ihr bisheriges Weltbild, diese Glaubens­sätze, Über­zeugungen mit sich. Wenn sie zum Islam übertraten, schlossen sie sich damals einem der arabischen Stämme als sog. mawâlî (Singular: maulâ) = Klienten an. Und durch ihr altes Wis­sen  waren sie für viele der weniger gebildeten arabischen Muslime bald gefragte Quellen, die das, was sie bei ihnen erfuhren, oftmals kritiklos übernahmen.

Ein gewisser Dünkel, ein Gefühl der Überlegenheit auf Seiten der Konvertiten gegenüber den oft weniger gebildeten Arabern und deren Unterlegenheitsempfinden, spielte dabei wohl auch eine nicht zu unter­schätzende Rolle, wie Maulana Muhammad 'Ali, The Religion of Islam, von ibn ẖaldûn (732 AH –808 AH/ 1332 - 1406, einer der größten muslimischen Sozialwissenschaftler des Mittelalters) zitiert, der weitaus drasti­schere Worte verwendet (s. S. 27, 28, 35). Eine brisante Gemengelage, wie das Ergebnis in vielen der Kommen­tare zeigt. Und der Verdacht regt sich, dass es eine bewusste Einflussnahme in größerem Umfang gab auf einem Markt von Nachfrage und Angebot, mit Erfindern, Geschichtenerzählern, den quSSâS/quṣṣāṣ (s.S. 29) und anderen.

isrâ'îliyyât (Material jüdischen oder christlichen Ursprungs)

“Ehe für alle” im Islam? Sexualität, Partnerwahl, Ehebund, Familie im Qur’ân“, S. 32:

„G.H.A. Juynboll, The Authenticity of the Tradition Literature, Discussions in Modern Egypt, Seite 14:

"[...] Die isrâ'îliyyât, d.h. Traditionen, in denen jüdischer Einfluß erkennbar ist. Der allgemeine orthodoxe Stand­punkt ist, so lange wie die isnâde als gesund erklärt werden, dass Muhammad diese Äußerungen getan haben muss. Stets wird an diesem Punkt die Toleranz des Islams gegenüber den anderen mono­theistischen Religionen betont. Andererseits haben Gelehrte, die den Hadît einer erneuten Kritik unterziehen wollen, darauf hingewiesen, dass die zwei wichtigsten Übermittler von isrâ’îliyyât, kaʿb al-aHbâr und wahb b. munabbih, auf subversive Weise versuchten, den Islam zu unterminieren, indem sie jüdische Elemente in seine Glaubensanschauungen  einführten."

Zu den bekanntesten Erzählern von isrâ’îliyyât gehören gemäß der Wikipedia, arabisch:

  • kaʿb al-aHbâr (gest. 32 AH), (Übermittler jüdischen und altsüdarabischen Legendenguts, wurde in Dhimar geboren, das zwei Tagesreisen von Sanaa, der Hauptstadt  Jemens, entfernt liegt )
  • ʿabdu'llâH ibn salâm (gest. 43 AH).
  • wahb ibn munabbih (gest. 114 AH), südarabischer Erzähler (= qâSS) und Überlieferer von sogenann­ten isrâ’îliyyât)
  • ʿabdul malik ibn ʿabdul ʿazîz ibn jurayj (gest. 150 AH).

Über die Verwendung der isrâ’îliyyât im Laufe der muslimischen Geschichte schreibt Wikipedia, deutsch, u.a.:
„In den ersten 6. bis 7. Jahrhunderten des Islams, spielten Isrā'īlīyāt keine große Rolle und wurde bis in das 14. Jahrhundert selten verwendet, von manchen Gelehrten gar nicht. Bis dahin scheint der Ausdruck ein Buch oder einen festen Corpus von Geschichten, im Zusammenhang mit der Schöpfungsgeschichte und Berichten vergangener Propheten, die man für unzuverlässig hielt, fand aber keine weite Verbreitung. Erst für Ibn Taimiya (st. 1328) stellten die Isrā'īlīyāt eine Ansammlung von unzuverlässigen Überlieferungen jüdi­schen Ursprungs, die mit früheren Überlieferern, wie Wahb ibn Munabbih und Kaʿb al-Ahbār, deren Autori­tät von früheren sunnitischen Gelehrten, wie At-Tabarī, noch akzeptiert waren, in Verbindung. Dennoch war es sein Schüler Ibn Kathīr, der den Ausdruck erstmals systematisch für Traditionen nutzte, die dieser vehement ablehnte. [...]  Aber erst im 20. Jahrhundert setzte sich die systematische Verwendung der isrā'īlīyāt durch. So werden sie besonders in der heutigen Zeit oftmals kritisiert und als „unislamisch“ betrachtet.“

In diesen vielen Jahrhunderten, in denen solche Erzählungen und Geschichten akzeptiert wurden, wurden die Grundlagen für das Denken und das Verständnis des Qur'âns bei den Muslimen formuliert, die bis heute ihre Gültigkeit nicht verloren haben. Anders als in dem voranstehenden Zitat gesagt, hatten sie einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf frühe Qur'ân-Kommentare. Das Unheil, das dadurch angerichtet wurde, ist bis heute relevant im muslimi­schen Zusammenleben. Bei Gesprächen mit Muslimen sind homophobe Reak­⁠tionen weiterhin vorhanden. Ich erinnere mich an einen Bruder, der wie ich hier in Deutschland zum Islam übertrat und der mir ernsthaft versicherte: 'Du weißt ja, was wir mit dir machen würden!!!' Und ich hörte von jungen gebürtigen Muslimen, die in ihrer Verzweiflung Selbstmord begehen. Auch ein Telefongespräch mit einem Mitar­beiter eines muslimi­schen deutschsprachigen Presse­organs ist mir lebhaft in Erinnerung, der sich in seiner nega­tiven Einstel­lung auf seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten muslimischen Gruppe berief (statt besser auf die Quellen des Islams).

Aus den zuvor genannten Gründen kann man nur ableiten, dass viele Übersetzer des Qur'âns und die Vertre­ter muslimischer Gruppen, die ohne nachzudenken, ohne ihre Position zu hinterfragen, unter dem Einfluss einer unreflek­tierten, teilweise verbohrten, zwanghaften Homophobie stehen. Und die Frage ergibt sich, ob das die Basis sein kann, sein soll, sein darf, darauf aufbauend die offenbarten Worte Allahs in ihrem Sinngehalt umzubil­den und die Lehre des Islams entsprechend abzuleiten.

Warum bleiben wir nicht bei dem, was uns von Allah offenbart wurde? Der Qur'ân ist unsere Basis für den Islam, unverändert überliefert, mit einem klaren Wortlaut.

Warum denken manche, man müsse diesen ergänzen, indem ihm unpassende, abstruse Vorstellungen über­ge­stülpt werden, seien es schwache Überlieferungen, Erzählungen früherer Generationen, die sich auf abwegige Phantasie, un­wissenschaftlichen Vorstellungen stützen?
Warum beschränken wir uns nicht auf historisch belegbare Fakten?
Auch die Meinungen früherer muslimischer Gelehrter können nicht einfach herangezogen werden, bevor sie nicht kritisch geprüft worden sind. Sie waren - genauso wie wir heute - Kinder ihrer Zeit und fußten bisweilen auf Ideen dieser Zeit oder einem veralteten Weltbild.

In der Gegenwart, in der wir leben, haben es die Menschen geschafft, zum Mond zu fliegen, ihn zu betreten und wieder auf die Erde zurückzukehren. Alles gelang, weil sie sich streng nur an die Fakten hielten, die für dieses Unter­nehmen ausschlaggebend waren: Die Naturgesetze (und nicht irgendwelche Mythen und Märchen). Aber Muslimen ist es bisher nicht gelungen, sich an die für sie ausschlag­gebenden Fakten zu halten: Die Worte des Qur'âns. Sie sagen zwar, dass sie die von Allah offenbar­ten Worte sind, aber gleich­zeitig - wie es die Qur'ân-Kommentare zeigen - versuchten und versuchen sie ange­strengt, sie zu ignorieren, ihnen abwegige Erklärungen an die Seite zu stellen, überzustülpen, sie zu verfremden und zu verfälschen. Wohin hat sie das geführt?  Warum waren und sind ihnen Fabeln, Legenden usw. so selbst­verständlich und sogar wich­tiger als die leicht erkennbaren grundle­genden Aussagen? Wozu diese Flucht? Ist es vielleicht das, was der Qur'ân verurteilt, nämlich, dass sie ihren Wünschen (sahawât) folgen statt dessen, was Allah ihnen sagt? Und das betrifft ja nicht nur das in diesem Buch angesprochene Gebiet, sondern viele andere Bereiche.

Oft hindert sie lediglich die eigene Bequemlichkeit am gründlichen Nachdenken, am Hinterfragen dessen, was sie tun, denken oder sagen. Wie wollen sie damit den Weg für ein angemesseneres Verständnis für ihre Religion ebnen, wenn sie dies angestrengt zu vermeiden suchen.

Über die Anfänge der Übernahme von vorislamischem Gedankengut

Gegenüberstellung des muslimischen und des gregorianischen Kalenders für die frühe Zeit:

Muslimische Jahrhunderte : AH = Anno Hegirae =„im Jahr der Hidschra“
zu entsprechenden gregorianischen Jahrhunderten:
1. Jahrhundert AH (622   -   719)   7. gregorianischen Jahrhundert
2. Jahrhundert AH (719   -   816)   8. gregorianischen Jahrhundert
3. Jahrhundert AH (816   -   913)   9. gregorianischen Jahrhundert
4. Jahrhundert AH (913   - 1009) 10. gregorianischen Jahrhundert
5. Jahrhundert AH (1009 - 1106) 11. gregorianischen Jahrhundert
6. Jahrhundert AH (1106 -         ) 12. gregorianischen Jahrhundert

Samuel Rosenblatt (s.o., S. 24) setzt für die Zeit „des neunten und zehnten Jahrhunderts der üblichen Zeitrech­nung“ für diese Übernahmen biblischen Ursprungs an, d.h. das 3. - 4. Jahrhundert des muslimischen Kalen­ders. Doch  die Konvertierung begann schon ab dem 1. Jahrhundert der hijra = 7. gregorianisches Jh. statt. So heißt es im Artikel „Islamische Expansion“ in Wikipedia:

„Die islamische Expansion bezeichnet im Folgenden die Eroberungen der Araber von der Mitte der 630er Jahre an und die damit einhergehende Ausdehnung des Islams bis ins 8. Jahrhundert hinein. Mit dem Beginn der islamischen Expansion wird häufig auch das Ende der Antike angesetzt.

In den 630er Jahren begann der Angriff der Araber auf das Oströmische bzw. Byzantinische Reich und das neupersische Sassanidenreich, wobei beide spätantiken Großmächte von einem langjährigen Krieg gegen­einander stark geschwächt waren. Die Oströmer verloren 636 Palästina und Syrien, 640/42 Ägypten und bis 698 ganz Nordafrika an die Araber. Während die Oströmer ein Restreich mit dem Schwerpunkt Klein­asien und Balkan halten konnten, ging das Sassanidenreich 651 unter. In den folgenden Jahrzehnten griffen die Araber auch zur See an. Sie eroberten zu Beginn des 8. Jahrhunderts das Westgotenreich auf der iberi­schen Halbinsel und drangen im Osten bis nach Zentralasien vor.“

Qur'ân-Kommentare – tafsîr

Zur Einstimmung ein Zitat aus: The Religion of Islam von Maulana Muhammad 'Ali, S.47, über „den Wert von Hadît und Kommentaren bei der Interpretation des Qur'ân:

„Was Kommentare betrifft, ein Wort der Warnung ist notwendig gegen die Tendenz, das, was in ihnen steht, als das letzte Wort der Interpretation zu betrachten, denn dadurch werden die großen Schätze des Wissens, die eine Auslegung des Heiligen Qur'âns im neuen Licht der modernen Wissenschaft offenbart, verschlossen, und der  wird für die heutige Generation zu einem versiegelten Buch. Die Gelehrten von einst suchten alle frei nach der Bedeutung des Korans gemäß ihrem Licht, und die heutige Generation hat das gleiche Recht, ihn gemäß ihrem eigenen Licht zu lesen. Es muss auch hinzugefügt werden, dass, obwohl die Kommentare eine wertvolle Quelle für die Kenntnis des Heiligen Qur'âns sind, die zahlreichen Anekdoten und Legenden, mit denen viele von ihnen gefüllt sind, nur mit größter Vorsicht und nach sorgfältiger Sich­tung akzeptiert werden können. Solche Geschichten stammen meist von Juden und Christen, und ich verweise den Leser dies­bezüg­lich auf meine Ausführungen unter der Überschrift "Berichte in Biographien und Kommentaren" im nächsten Kapitel, wo ich gezeigt habe, dass die besten Autoritäten den größten Teil dieses Materials als jüdischen und christlichen Unsinn verurteilt haben.“

In dem zuvor genannten Kapitel "Berichte in Biographien und Kommentaren“ heißt es bei ihm auf „S. 78 f.:

"[...] Viele nachlässige Kommentatoren warfen den Hadith mit jüdischen und christlichen Geschichten durch­einander und machten von letzteren freien Gebrauch, als ob sie so viele Berichte wären. Wie ibn haldûn über die Kommentare sagt:
'Der Grund dafür ist, dass die Araber ein ungebildetes Volk ohne Literatur und ohne Wissen waren, und Wüstenleben und Unwissenheit ihre Hauptmerkmale waren, und wann immer sie wie die Sterblichen wünschten, Wissen über die Ursache der Existenz und den Ursprung der Schöpfung und die Geheimnisse des Universums zu erlangen, wandten sie sich für Informationen an die Anhänger des Buches, die Juden und die Christen, die ihren Glauben praktizierten. Aber diese Leute des Buches waren wie sie selbst, und ihr Wissen über diese Dinge ging nicht weiter als das Wissen der unwissenden Massen. Als diese Leute den Islam annahmen, behielten sie ihre Geschichten bei, die nichts mit den Geboten des islamischen Gesetzes zu tun hatten, wie die Geschichten über den Ursprung der Schöpfung und Dinge, die sich auf die Zukunft und die Kriege beziehen. Diese Leute waren wie kacb aHbâr und wahb ibn munabbah und cabdu`llâh ibn salâm und andere. Die Kommentare zum Heiligen Qur'ân wurden bald mit diesen Geschichten von ihnen gefüllt. Und in solchen Dingen gehen die Berichte nicht über sie hinaus, und da diese nicht mit Geboten zu tun haben, wird ihre Richtigkeit nicht in dem Maße gesucht, dass man nach ihnen handelt, und die Kommen­tatoren nehmen sie eher nachlässig, und so haben sie ihre Kommentare mit ihnen gefüllt.' (Mq. I, S. 481, Kap. culûm al-qur'ân).'

[...] In der Tat sind einige der Kommentare, die zitierten Berichte, kindischer Unsinn. Sogar auf den Kommen­tar von ibn jarîr [aT-Tabarî], mit all seinem Wert als literarisches  Erzeugnis, kann man sich nicht verlassen. [...].“

Auf S.45 sagte er über Interpretationen:
„[...] Der wichtige Grundsatz, der bei der Auslegung des Heiligen Qur'âns beachtet werden muss, ist daher, dass die Bedeutung innerhalb des Qur'âns zu suchen ist und niemals eine Stelle so ausgelegt werden darf, dass sie im Widerspruch zu einer anderen Stelle steht, das gilt vor allem bei den in den entscheidenden Versen niedergelegten Grundprinzipien. [...]“.

Und als Ergänzung dazu:
Ganz unverständlich ist, dass Muslime, für die der Qur'ân das geoffenbarte Wort Allahs ist, nicht zu allererst und ausschließlich, seinen Worten folgen, sondern Dinge hinzufügen, den Text des Qur'âns mit ihnen ergänzen, die darin nicht gesagt werden und deshalb gar nicht erst in Betracht gezogen werden dürften.  Denn wer das tut, will wohl nicht wissen, was der Qur'ân verkündet, sondern will ihm willkürlich einen Sinn überstülpen, den er nicht enthält. Das ist mehr als unverant­wortlich, Das zeigt mehr als deutlich, dass die Absicht solcher Leute nicht in einer Erklärung des Qur'âns lag, sondern in seiner Verfälschung entsprechend ihrem „Vorwissen“, ihren Vorurteilen oder Wünschen.

Maulana Muhammad Ali spricht von dem Qur'ân-Kommentar von aT-Tabarî als ein Werk „mit all seinem Wert als lite­ra­risches Erzeugnis“. Seine Arbeit war sicherlich ein gewaltiges, unvorstellbares und mühseliges Vor­ha­ben,  Überlieferungen zu sammeln, zu sichten und zu ordnen. Bei genauerem Hinsehen erweist er sich in dem untersuchten Bereich als eine um­fang­reiche Sammlung von Aussagen seiner Zeitgenossen, von Ge­schich­ten und Erzählungen, die dann in den Kommentar aufgenommen wurden und im Grunde dem Qur'ân-Text hinzugefügt wurden, ohne wirklich ein Kommentar zu sein, der dem Leser etwas mehr über den Inhalt des Qur'âns vermittelt. Es ist eine parallele Sicht, die sich im Text nicht wiederfindet, interessant vielleicht für Historiker, nicht mehr. Diese Feststellung trifft auf einige der anderen Kommentare ebenso zu.

Laut ibn ẖaldûn (s.o.) fehlten den frühen Muslimen alle Voraussetzungen wie das Handwerkzeug, die Aus­bildung und das Wissen, um mit den Geschichten wie etwa dem Sodom-Mythos angemessen umgehen zu können. Sie übernahmen sie ohne Prüfung auf wissenschaftliche Belegbarkeit und so mit fatalen Folgen für zukünftige Generationen und deren Gelehrte, die sie aufgrund ihrer – wie es scheint - eigenen Unwissenheit oft nur schönredeten, was sie für die historische Wahrheit hielten, sogar so herausragende Leute wie Maulânâ Muhammad cAli und Muhammad Asad wie auch nicht-muslimische Wissenschaftler z.B. beim Corpus Coranicum. Das offenbar unter der Annahme, Islam sei das Ergebnis muslimischer Geschichte und muslimischen Denkens und nicht allein das, was aus dem Wortlaut des Qur'âns hervorgeht.

Einfach die ideologisierten, homophoben Erfindungen der frühen Christen (der patristischen Theologie ca. 100 n. Chr. bis 750 n. Chr.) fortzusetzen, ist kein angemessener und akzeptabler Weg.

Der Qur’ân nennt in der Lot-Geschichte die Besucher, die zu Abraham und dann zu Lot kommen, Gesandte und Gäste (15:53, 58, im Plural). Er sagt nicht, dass sie Engel seien. Doch leiten viele Kommentatoren dies ab aus dem Wort 'Gesandte', das auch für Engel verwendet wird (s. Muhammad Asad, Seite 325). Und in (11:81) heißt es: „Sie (die Gesandten) sprachen: "Lot, wir sind Gesandte deines Herrn.“ Und nur unter dieser Voraussetzung werden die Verse (51:32-34) als verständlich betrachtet. Aber keine der über diese Gesand­ten berichteten Taten im Qur'ân weisen daraufhin, dass es Wesen mit übermenschlichen Fähigkeiten sind.

Doch darauf bauen offenbar Geschichten in den Kommentaren auf, die Entsprechendes phantasievoll aus­malen, an­statt sich auf das, was der Qur'ân sagt, zu beschränken.

Über das Aussehen oder das Alter der zu Lot gesandten gibt es im Qur’ân keinen Hinweis. Jede dahin­gehende Äußerung lässt sich nicht aus ihm ableiten und ist reine Spekulation.

Auch die im Zusammenhang mit Lot und seinem Volk in den zitierten Kommentaren genannten Namen von zwei dieser Engel. Gabriel (jibrîl) wie auch Michael (mîkâl), und ihre „Wunder“-Taten sind pure Phantasie und nicht auf irgendein Wort im Qur'ân zurückzuführen. Ihre Namen werden in nur wenigen Versen genannt (2:­97,98), (66:4).

Das betrifft in den untersuchten Kommentaren nicht nur die ergänzten unangemessenen Wörter, sondern auch die verqueren Phantasie­geschichten über die Taten der zu Lot Gesandten, die darin als angebliche Engel geschildert werden.

Mein bisheriger Eindruck: Wer so leichtfertig mit dem Wortlaut des Qur'âns umgeht, tut das bewusst, stimmt nicht mit dem darin ausdrücklich Gesagten überein, sondern möchte es im Bewusstsein der Menschen in sei­nem Sinne verändern - er ist mutmaßlich- verein­facht und explizit gesagt - Gegner des offenbarten Textes in diesen Punkten. Und wirklich unheilvoll ist der Einfluss einer solchen Einstellung für die Jahrhunderte da­nach auf das Bild vom Islam, das die Muslime sich gebildet haben, auch auf die maḏâhib, die Rechtsschulen und ihr Menschen- und Welt­bild.

Die leichtfertige und unverantwortliche Übernahme von im Umlauf vorhandenen Geschichten, z.B. der Rück­griff auf vormuslimische homophobe Hasspredigten oder Indoktrinationen ist keine ernst­zunehmende Methode, den Qur'ân zu kom­men­tieren, sondern das Gegenteil einer sachlichen, am Text orientierten Vor­gehensweise.

Homophobe Einstellungen in der damaligen Christenheit und entsprechende homophobe Narrative in deren religi­ösen Exegese beeinflussten oder bestätigten damals sicherlich viele Menschen - und beeinflussen sie noch heute -. Und als sie konvertierten, Muslime wurden, legten sie ihre Haltung auch in dieser Frage nicht automatisch ab, sondern sie suchten in der neuen heiligen Schrift, dem Qur'ân, nach Aussagen, die ihre Sicht bestätigten. Statt sich dabei streng an den Wortlaut zu halten, begannen einige stattdessen den Text und seine Darstellung mit Erzählungen, vertrauten Erklärungs­mustern und Erfindungen in den Köpfen der Gläubigen zu überlagern, ihm ihre Darstellungsvarianten überzustülpen. Und man kann annehmen, dass sie bei religiösen Belehrungen gegenüber ihren Zuhörern dasselbe Material verwendet haben. Nicht unterschät­zen darf man den Einfluss der damaligen Geschichtenerzähler (arab. quSSâS, Singular qâSS) (s. S. 41) auf die Bevölkerung, die in der Mehrzahl weder schreiben noch lesen konnte und daher zum großen Teil von sol­chen Informationen abhängig war. Andere Muslime über­nahmen solche Darstellungen, besonders wohl jene, die einen vergleich­baren geisti­gen Hintergrund hatten, und diese homophoben Narrative setzten sich allmäh­lich als Interpretati­onen des qur'ânischen Textes durch und blen­de­ten wohl teils auch jene, die den Wortlaut des Qur'âns selber lesen konn­ten. Dieses Vorgehen überlagerte immer mehr den Inhalt im eigentlichen Text.

Wer jedoch den Qur'ân liest und mit diesen seltsamen und seinem Wortlaut nicht übereinstimmenden Dar­stel­lungen vergleicht, wird schnell feststellen, dass sie nicht zusammenpassen.

In den Qur'ân-Kommentaren stehen der Qur'ân-Text und  Kommentierung bzw. Interpretation neben­einander. Es geht dabei, wie das Wort Qur'ân-Kommentar besagt, um den Wortlaut, den Inhalt des Qur'ân-Textes. Für einen Muslim ist dieser Text die Offenbarung Allahs an die Menschen. Und er ist das, was Allah ihnen Wort für Wort mitgeteilt hat.

Was in diesen Büchern vielfach geschieht, ist, dass neben die klaren Worte des offenbarten Textes andere Erzählungen gestellt werden, so dass der Leser oder Hörer den Eindruck mitnehmen kann, dass das mit dem, was offenbart wurde, gemeint sei und dessen Aussage nicht vollständig und wirklich klar ist.

Warum halten sich nicht alle Kommentare an den Wortlaut des Qur'âns? Was bezwecken sie damit? Wes­halb verwenden sie Vorstellungen und Meinungen ihrer früheren Bekenntnisse? Nehmen sie etwa an, dass der Qur'ân erst „auf Vordermann“ gebracht werden muss, damit er „das Richtige“ aussagt? Muss Allahs Wort „korri­giert“ werden, darf ein Mensch das?

Haben nicht gerade Kommentatoren eine besondere Verantwortung?

Der zunehmende Einfluss des Sodom-Mythos

Schon frühe Ansätze muslimischen Denkens sind nachweisbar vom zunehmenden Einfluss des Sodom-Mythos, wie er in der patristischen Theologie in den ersten Jahrhunderten des Christentums ent­wickelt wurde, überschattet.
In dem Buch "Islam und Homosexualität im Qur’ân und der Hadîṯ-Literatur", Teil 2 mit dem Untertitel: Hadîṯ-Literatur, Die Überlieferungen“ werden insgesamt 23 alte Hadîṯ-Sammlungen durchsucht, in chronologischer Reihenfolge - d.h. anhand der Sterbedaten der den Werken zugesprochenen Autoren -, von den frühesten bis einschließlich zu den sogenannten ‚sechs Büchern’, Sammlungen, die nach überein­stimmender Meinung muslimischer Gelehrter weitgehend authentisches Material enthalten sollen:

ʿumar ibn ʿabdu`l-ʿazîz  (63 - 102 h., musnad)
hammâm ibn munabbih (40 - 103 h., SaHîfa)
zayd ibn ʿalî (79 - 122 h., musnad/maǧmûʿu’l-fiqh)
abû Hanîfa (80 - 150 h., musnad)
ma
ʿmar ibn râšid (96 - 153 h., al-ǧâmiʿʿ)
rabîʿ ibn Habîb (     - 170 h., al-ǧâmiʿu`S-SahîH)
mâlik ibn anas (93 - 179 h., muwaTTa‘)
Rezension: muHammad ibn al-Hasan aš-šaybânî (132 - 189 h.)
mâlik ibn anas (93 - 179 h., muwaTTa’)
Rezension:
yaHyâ ibn yaHyâ`l-layṯiyyi`l-andalusiyyi`l-masmûdî (  - 234 h.)
abû yûsuf  (113 - 182 h., kitâbu`l-harâǧ, kitâbu`l-aṯâr)
ʿabdu`llâh ibn wahb (125 - 197 h., ǧâmiʿ)
aT-Tayâlisî (133 - 203 h., musnad)
aš-šâfiʿî (105 - 204 h., musnad)
ʿabdu`r-razzâqi`S-Sanʿânî (126 - 211 h., muSannaf)
ʿabdu`llâh ibnu`z-zubayri`l-Humaydî (   - 219 h., musnad)
ibn abî šayba  (159 - 235 h., muSannaf)
aHmad ibn Hanbal (164 - 241 h., musnad)
ad-dârimî (181 - 255 h., sunan)
al-buẖârî (194 - 256 h., ǧâmiʿu`S-SaHîH)
muslim (204 - 261 h., ǧâmiʿu`S-SaHîH)
ibn mâǧa (209 - 273 h.), sunan
abû dâwûd (202 - 275 h. sunan)
at-tirmiḏî (209 - 279 h., sunan)
an-nasâ’î (215 - 303 h., sunan)

Es werden darin zahllose Überlieferungen, „Hadîṯe“ untersucht, die darin benutzten Wörter und ihre Bedeu­tungen mit einem Bezug zu Homosexualität. Es gibt  eine ausführliche Beschreibung dazu, die den zuneh­menden Einfluss des in der christlichen homophoben patristischen Theologie hochgehaltenen Sodom-Mythos erkennen lässt. Es wird deutlich, dass über neu erfundene Wörter, zahllose Umdeutungen von bestehenden Begriffen u. ä eine Einführung der homophoben Ideen des Sodom-Mythos in das Denken der Muslime angestrebt wird, und wie dieser sich durchsetzte gegen das traditionelle Sprachempfinden. Es zeigt bei manchen Überlieferern deren Probleme mit der arabischen Sprache im Zusammenhang mit Vorstellun­gen, die sie als islamische Meinung einführen wollen. Es beschreibt Überlieferer, die sich bei bestimmten Begriffen hervor­tun, sie als deren alleinige Verbreiter, d.h. als deren Urheber, aufzeigen und über deren Zuverlässigkeit als Überlieferer.

Das Buch umfasst etwa 340 Seiten und kann hier daher nur auszugsweise und stark verkürzt wieder­gegeben werden. In ihm werden etwa 25 arabische Wörter, Ausdrücke und kurze Berichte in Überlie­ferungen, die mit Homosexualität in Verbindung gebracht werden, beschrieben.

Ein Beispiel aus dem Abschnitt „E 01.2.1 lûTiyya, lûTî: Über die Wortbildung (اللوطية – اللوطي)“ in dem genannten Buch, wie das Wort lûTî (wörtlich: Anhänger Lots) seine Bedeu­tung änderte. und so wurde es in der frühen Zeit auch ver­stan­den, erst in späterer Zeit wurde es mit Sodomit (= Homo­sexueller) gleichgesetzt. Denn der Name Stadt Sodom, in der Lot lebte und der in anderen Sprachen als Basis für Wortneubildungen diente, wird im Qur'ân nicht genannt.

E. W. Lane, Band II, S. 2682, erklärt in seinem Wörterbuch Arabic-English Lexikon von 1877 (eckige Klammern gemäß Vorlage):
"[lûTiyyun Einer, der dem Vergehen von Lots Volk ergeben ist; wie auch lawwâTun: beide in diesem Sinne in der heutigen Zeit verwendet; aber vielleicht nachklassisch.]“
Und:
„lûTiyyatun [das Vergehen von Lots Volk]: eine in letzter der zuvor erklärten Bedeutungen: es kommt in einer Überlieferung vor. (TA)."

Mit „aber vielleicht nachklassisch“ ist von E. W. Lane wohl gemeint, dass er in alten Schriften keine entsprechenden Beispiele dafür gefunden hat.

Dieser zunächst allmähliche Vorgang ist ganz deutlich in Überlieferungen im Abschnitt „E 01.17.1 yâ lûTî“. Aus dem Namen Lot, arabisch lûT,  wurden neue arabische Wörter gebildet und ihnen eine homosexuelle Konno­tation verpasst, obwohl ja Lot dafür nicht verantwortlich gemacht werden kann. Siehe auch den Abschnitt „E 01.2.1 lûTiyya, lûTî: Über die Wortbildung (اللوطية – اللوطي)“ in dem genannten Buch. Andere Wörter sind z.B. لواط - liwâT, mit der späteren Bedeutung von Analverkehr.

In den älteren Sammlungen tauchen keine Überlieferungen auf, in denen darauf eingegangen wird, wie auf jemanden zu reagieren ist, der einen anderen lûTî nennt. Daraus kann gefolgert werden, dass dieses Wort bis dahin seine ursprüngliche Bedeutung hatte als ein Anhänger des Propheten lûT, und dass der negative, herabsetzende Sinn noch nicht allgemein verbreitet war.

Aus diesen Sammlungen wird dies deutlich, wenn z.B. in Nr. 13730 bei ʿabdu`r-razzâqi`S-Sanʿânî  (126 - 211 h.) zunächst festgestellt werden soll, was mit dem Wort gemeint ist, und es in Nr. 13746 sogar heißt:
Und salama war zum Propheten (S.) gekommen, er sagte: Ein Mann sagte zu einem [anderen] Mann:
O lûTî [wörtlich: Anhänger Lots]! Und er unterbreitete dies sinân ibn salama, und der entgegnete:
„Welch trefflicher Mann bist du, wenn du von Lots Volk bist.“
Doch wird zu diesem Zeitpunkt schon die Einflussnahme der Umdeutung erkennbar.“

Weitere Beispiele:
Aus: ʿabdu`r-razzâqi`S-Sanʿânî,muSannaf, Teil 7, S. 426, Nr. 13733:
Von az-zuhrî (50 – 124) und qatâda (60 – 117), einem maulâ, wird die Antwort überliefert: “Von az-zuhrî und qatâda über einen Mann, der zu einem [anderen] Mann sagt: O lûTî [wörtlich: O Anhänger Lots]! Beide sagten: Er wird nicht mit einer Hadd-Strafe belegt.”
Aus: ibn abî šayba, muSannaf (II), Teil 9, S. 533, Nr. 8404:
al-Hasan al-baSrî ( - 110) und muHammad sagten: „Ihm obliegt keine Hadd-Strafe, wenn er nicht sagt: Du tust ja das, was das Volk Lots tat“.

Voraussetzung dafür, dass diese Benennung als Beschimpfung empfunden werden konnte, war, dass die eigentliche Bedeutung dieses Ausdrucks verballhornt wurde und sich als Bezeichnung für Homosexuelle durchsetzte wurde im Zusammenhang mit der Akzeptanz des Sodom-Mythos, Vorstellungen der patristischen Theologie mit ihrer homophoben Grundstimmung, und zwar wohl nachdem der Ausdruck ʿamal qaum lûT - das, was Lots Volk tat - schließlich bis auf den Namen Lots verkürzt wurde.

Die ersten derartigen Überlieferungen tauchen in den Sammlungen erst relativ spät auf, nämlich bei ʿabdu`r-razzâqi`S-Sanʿânî, der von 126 - 211 nach der hijra lebte.

Eine Bestrafung für lûTiyya und den, der sie begeht, ist erst bei ʿabdu`r-razzâqi`S-Sanʿânî nachzuweisen und dann noch bei ibn abî šayba  (159 - 235 h.). Weder vorher noch nachher waren solche Überlieferungen in den Sammlungen zu finden. Und bei allen handelt es sich zudem nicht um prophetische Traditionen, sondern um Meinungen von Gelehrten. Mit anderen Worten: Die anderen Sammler mieden sie und waren sich wohl bewusst, dass es sich - wohl wegen der verwendeten Ausdrücke - nicht um vertrauenswürdige Aussagen des Propheten (S) handeln konnte.

Klarer kann nicht gezeigt werden, dass dieser Ausdruck nachklassisch ist, wie E.W. Lane annahm, und in welchem Zeitraum diese Umdeutung geschah.

Der Begriffe lûTî und lûtiyya als Bezeichnung für einen Homosexuellen und Homosexualität setzte sich erst gegen Ende des 1., Anfang des 2. Jahrhundert muslimischer Zeitrechnung allmählich durch und gelangte so in die Überlieferungen, die in der Regel nicht auf den Propheten zurückgeführt wurden, Aber sie zeigen klar deren Bedeutungswandel auf Grund des zunehmend akzeptierten Sodom-Mythos als Folge von dessen Überbetonung in der patristischen Theologie.

ʿamal qaum lûT (= das Tun von Lots Volk): Andere Deutungen

Sie sind vielfältig. Sie reichen von ungehörigem Benehmen, über die Verletzung eines Gebots, nach dem bestimmte Fische nur an bestimmten Tagen zu essen seien, über die Eheschließung ohne Erlaubnis durch die Ehefrau bzw. die Familie. Der Ausdruck wurde sogar verwendet, um die Empörung gegen den dritten Kalifen ʿuṯmân (644–656)  und die Belagerung seines Hauses zu bezeichnen.

Sie haben keinen erkennbaren sexuellen Bezug und sind festgehalten bei zayd ibn ʿalî  (79 - 122 h.), abû Hanîfa (80 - 150 h.), ibn abî šayba (159 - 235 h.) und mit einem Beispiel noch bei aHmad ibn Hanbal (164 - 241 h.).

Wenigstens in diesem Zeitraum waren solche Überlieferungen verbreitet und spiegeln so einen ganz ande­ren Stand der Meinungen über die Verhältnisse in Sodom und Gomorra wider.

In der Sammlung von zayd ibn ʿalî (79 - 122 h.) wird deren Vergehen z.B. folgendermaßen beschrieben:

„Ich hörte den Gesandten Allâhs (S.) sagen:
Zehn (Dinge) gehörten zu dem, was Lots Volk tat. So nehmt euch vor ihnen in acht: Den Schnurrbart herab­hängen zu lassen, die Haare zu frisieren, Pistazien (oder: Mastix) zu kauen, die Knöpfe (an der Klei­dung) zu öffnen, den Lendenschurz (über die Fußknöchel) hängen zu lassen, Tauben fliegen zu lassen, mit Tonkugeln zu schießen, zu pfeifen, zum Trinken zusammenzukommen und miteinander Spiele auszutra­gen.“

Bei abû Hanîfa (80 - 150 h., musnad), heißt es:
„Ich sagte: Gesandter Allâhs, was war das Abscheuliche, das sie in ihren Versammlungen begangen haben [Bezug auf das Volk Lots in Sura 29:30]? Er antwortete: Sie pflegten Dattelkerne oder kleine Steine wegzuschleudern und Durchreisende zu verhöhnen.“

Ehe zwischen zwei Männern

Über eine Ehe zwischen zwei Männern heißt es bei ibn abî šayba (159 - 235 h., muSannaf):
„von ibrâhîm
fî`r-rajuli yatazawwaju`r-rajula ilâ maysaratin qâla: kâna yaqûlu: ilâ mautin au firâqin
über den Mann, der einen [anderen] Mann heiratet bis zu einer passenden Gelegenheit, [so] sagte er: [darüber] sagte er gewöhnlich: bis zum Tode oder [bis] zur Trennung.“
Anmerkung:
Hier wird hervorgehoben, dass eine Partnerschaft zwischen zwei Männern nur durch den Tod oder eine Trennung aufgehoben werden kann, d.h., dass z.B. die Möglichkeit einer Verbindung ‚ilâ ajalin’ (bis zum Ablauf einer Frist), also einer Art Zeitehe, ausgeschlossen wird.“
Eine vereinzelte Überlieferung, die in keiner weiteren der untersuchten Sammlungen auftauchte.

Durchaus geschlechtsneutral ist Folgendes:
Es gibt  weitere Überlieferungen z. B. bei ʿabdu`r-razzâqi`S-Sanʿânî, muSannaf, Teil 6, S. 168, Nr. 10377 mit der Aussage: „Der Gesandte Allahs (S.) [sagte]:

Im Falle von zweien, die einander lieben, kenne ich nichts gleich der Ehe.“

Und ein anderes Beispiel: cabdu`r-razzâqi`S-Sancânî, muSannaf, Teil 6, S. 263, Nr. :
Von as-sacbî, der sagte:
“lâ yanbagî li-rajulin an yajma
ʿa bayna`mra’atayni lau kânat iHdâ-humâ rajulan lam yaHill la-hu nikâHa-hâ”
„Ein Mann darf nicht zwei Frauen [in einer Ehe] vereinen; falls eine von den beiden ein Mann ist, ist es ihm nicht erlaubt, sie (= Singular, eine Frau) zu heiraten.“
sufyân sagte: Die Erklärung dafür ist nach unserer Meinung, dass er zur Verwandtschaft gehört und er nicht die Stellung einer Frau und der Tochter des Ehemannes hat, er [kann] sie beide vereinen, wenn er möchte.“
Anmerkung:
Eine wenig verständliche Überlieferung, die auch durch die Deutung von sufyân nicht klarer wird. Aufgrund des Wortlauts ist ja damit wohl eher gemeint, dass jemand nicht gleichzeitig mit einer Frau und einem Mann verheiratet sein darf - er also nicht eine Frau heiraten darf, wenn er schon mit einem Mann eine Ehe eingegangen ist.

Erstaunliche Aussagen aus der frühen Geschichte der Muslime.

Der Hamîm (treuer, intimer Freund) im Qur'ân und in Überlieferungen

Gemäß dem Qur'ân wird am Tage des Gerichts ein treuer Freund (Hamîm) zwar nicht nach seinem Freund fragen, da jeder für sich für sein Leben verantwortlich ist; doch in diesem Leben kann das Verhältnis eines Mannes zu seinem Hamîm tiefer und bindender sein als das Verhältnis eines Mannes zu einer Frau, den Kindern, Verwandten und allen anderen Menschen auf der Erde (70:10-14).

In vielen Überlieferungen wird der Hamîm, der intime Freund, offenbar zu den Erbberechtigten neben den Verwandten gezählt.

Die früheste Sammlung, für die diese Überlieferung ausgewählt wurde, ist die von ibn abî sayba  (159 - 235 h.). doch ad-dârimî, al-buẖârî, muslim, at-tirmiḏî und an-nasâ’î haben sie nicht übernommen.

Bei ibn abî šayba  (159 - 235 h., muSannaf) und sogar noch bei abû dâwûd (202 - 275 h., sunan) gibt es sie.
„Von ʿâ’iša,
dass ein maulâ des Propheten (S.) starb. Er hinterließ etwas, doch hatte er kein Kind und keinen intimen Freund [arabisch: Hamîm].
Da sagte der Prophet (S.):
Gebt seine Hinterlassenschaft einem Mann von den Bewohnern seiner Stadt.“

Wie gerade gezeigt, halten die frühen Sammlungen einige Überraschungen vor, die darauf hinweisen, dass der Sodom-Mythos erst in etwas späterer Zeit seinen verheerenden Einfluss durchsetzte.

Zum Schluss ein weiteres Beispiel aus einer Reihe anderer, wie Vertreter des Sodom-Mythos Ihre verschro­benen Vorstellungen in arabische Sprache umzusetzen versuchten, ein Zitat aus dem genannten Buch über derartige Überlieferungen:

„In allen heißt es:
al-muẖannaṯîna mina`r-rijâl wa`l-mutarajjilât mina`n-nisâ:
die muẖannaṯûn [Schwule] unter den Männern und die mutarajjilât [Frauen, die sich wie Männer gebärden] unter den Frauen
Das grammatische Geschlecht der beiden Wörter muẖannaṯûn und mutarajjilât bezeichnet bereits das Geschlecht der jeweiligen Personengruppe, so dass die Ergänzung ‚unter den Männern‘ bzw. ‚unter den Frauen‘ überflüssig ist: Es wird ja von einer männlichen Personengruppe gesprochen und hervorgehoben, dass sie zu den Männern gehört und von einer weiblichen Personengruppe und hervorgehoben, die zu den Frauen gehört. Ein Grund für diese ungewöhnliche Formulierung könnte sein, dass jemand sich im Arabischen unsicher fühlte. Vielleicht waren den Zuhörern diese Vorstellungen nicht geläufig, so dass eine ergänzende Erklärung erforderlich war, oder derjenige, der sie in Umlauf setzte, war sich nicht seiner Sache sicher, ob er im Arabischen die richtige Wortwahl getroffen hatte.“

Kurz und bündig

Kommentare über das Vergehen von Lots Volk

Es ist wohl gelungen zu zeigen, dass und wie alte Qur'ân-Kommentare einen nicht zu leugnenden Einfluss auf das religiöse Denken der Muslime in der Vergangenheit bis heute haben und woher deren Vorstellungen stammen.

Es gibt keine historisch haltbaren Belege über das Volk Lots, die den traditionelle Unsinn unterstützen könn­ten. Auch die Worte des Qur'âns sprechen nicht dafür - im Gegenteil - und es gibt auch keinen einzigen authen­tischen Hadît als Äußerung des Pro­pheten Muhammad (S) dazu -  nichts.

So bleibt weiterhin die Hoffnung, dass die Muslime diesen unwissenschaftlichen Stand­punkt immer wieder über­denken und endlich zu einem realeren Bild der Fakten kommen als bisher und diese auch vertreten.

Noch einmal und abschließend: Die einzige Basis für die Lehren des Islams ist der Qur'ân, die offenbarte Botschaft von Allah an die Menschen und die - im strengen Sinne - authentischen Hadîte, das, was der Prophet gesagt, getan, gedacht, gebilligt oder missbilligt, erlaubt oder verboten hat. Der von Einigen vorgebrachte Rückblick in die Vergangenheit zur Bekräftigung der eigenen Meinung ist letztlich eine rückwärts gewandte Einstellung, ebenso wie das Festhalten an bestimm­ten Gruppen und ihren Auffassun­gen, die in der Regel auch nur an Vorstellungen haften, die in der Vergangen­heit gebildet wurden mit dem Risiko, Altes am Leben zu halten, das in den eigentlichen Quellen des Islams keinen Rückhalt hat. Allahs Wille drückt sich aus im Qur'ân und den Fakten in Seiner Schöpfung.

Denn die Schöp­fungsrealität - das, was Allah erschaffen hat und immer wieder entstehen lässt - spricht dage­gen: Homo­sexualität ist schöpfungsimmanent. Sie findet sich bei Menschen und darüber hinaus bei zahllosen Tierarten, vielleicht sogar bei allen. Sie ist keine Sünde, sondern Teil der Varianz der Schöpfung, mit anderen Worten: Von Allah so gewollt. Und sie bedroht auch nicht die Existenz der Menschheit - wie von manchen muslimischen Vertretern bisweilen geäußert - und hat sie nie bedroht. Und wenn Homosexualität einver­nehm­lich gelebt wird, kommt niemand zu Schaden. Eine religiöse „Unterströmung“ in Form religiös ver­brämter Homo­phobie gab es und gibt es. Doch es gibt keinen Grund, sie weiter zu „pflegen“, und sei es unter Berufung auf das angebliche „Wissen“ der Alten, es sei denn, um anderen Menschen Leid, Verachtung und Selbsthass zu vermitteln, sie vielleicht sogar in den Selbst­mord zu treiben.

Das Wort šahwa (Begehren) in der Form šahwatan (bei einem Begehren) in 2 Aussagen von Lot - hat im Qur'ân nicht die eindeutig sexuelle Bedeutung, die ihm in den meisten Qur'ân-Über­setzungen zugeschrieben wird. Und manche Übersetzer des Qur'âns fügen es sogar in Klammern bei ande­ren Versen hinzu, wohl um von ihnen befürchtete „Missverständnisse“ zu verhindern.

In manchen Kommentaren wurde versucht, dem Wort šahwa eine neue Bedeutung zu verleihen, und zwar in den Geschichten über Josef und Jakob mit der Vorstellung, dass šahwa - Begehren - aus den Fingerspitzen Josefs bzw. zwischen seinen Fingerspitzen herausgekommen sei. Das blieb wohl nicht ohne Einfluss auf die Interpretation der Verse von Lot und seinem Volk und dem Verständnis des Wortes šahwatan dort.

Die zuvor angeführten Gründe, die gegen einen solchen Sinn genannt wurden, werden Bestand haben.

Astronomie als Vorbild für eine islamische Wissenschaft

Die heftigen Reaktionen und Anfeindungen bei diesem Thema von Seiten anderer Muslime erinnern mich vielfach an die Entwicklung der Astronomie und Kosmologie. Diese beschäftigt die Menschen seit Urzeiten, und sie entdeckten immer wieder Neues, verwarfen alte Ansichten und Modelle, entwickelten auf der Basis neu erkannter Sachverhalte ein realeres Bild von der Welt, in der wir leben. Lange Zeit verweigerten sich Gruppen von Menschen diesen Forchungsergebnissen, insbesondere Gelehrte mit religiösem Hintergrund,  bestanden auf ihren fehlerhaften Annahmen, drohten und zwangen die Entdecker sogar zum Widerruf oder töteten sie deswegen. Dabei verkündeten die von ihnen Angefeindeten lediglich das, was Allah bei der Erschaffung der Welt in Seiner Schöpfung festlegte, in ihr 'offenbarte' (arabisch: waHy: 41:11,12), sozusagen ‚inhärente’ Offenbarungen, die der Mensch entdecken/erforschen kann, um die Schöpfung Allahs und ihre interdependenten Abhängigkeiten und Regeln besser zu verstehen.

Unter diesem Aspekt sehe ich auch die Offenbarung des Qur’âns. Seine Worte beschreiben demnach einen Teilbereich innerhalb des Universums, der zum Letzteren in einer Bezie­hung steht, etwas, das es zu verste­hen, zu entdecken und zu erforschen gilt. Seine Untersuchung, Interpretation, ist nie abge­schlossen, son­dern für alle Zeit offen, um erkannte Fakten zu berücksichtigen, bisher verwendete Mythen, Behauptungen und Fehl­schlüsse abzulegen, wenn sie dem aktuellen Wissen widersprechen. Das bedeutet auch, als Erfindun­gen/Fäl­schun­gen erkanntes Überkommenes (auch sogenannte, aber nicht authentische) 'Hadîte' gegebenenfalls beiseite zu lassen. Selbst große Gelehrte konn­ten und können – wie alle Menschen – irren. Die Vor­stellung, dass alles Existierende auf Allah zurückgeht, von Ihm so 'gewollt' ist, ist dabei für einen religiösen Men­schen unbe­streitbar.

Die Astronomie, die Sternkunde, bestimmt das Selbstbild des Menschen und seine Auffassung von seiner Stellung im Universum mit. In der Astronomiegeschichte gab es z.B. die falsche Vorstellung einer Scheibenform der Erde, die später von der Erde als eine Kugel ersetzt wurde. Es gab in der Entwicklung der Astronomie seit den alten Ideen wie die geozentrischen Vorstellun­gen mit der Erde als Mittelpunkt des Weltalls und den Planeten auf idealen Kreisen um sie herum u.ä. bis zum heutigen stark natur­wissenschaftlich orientiertem Denken mit entsprechend anderen Theorien. Der heliozentrische Entwurf von Nikolaus Kopernikus (1473 – 1573) und die von Johannes Kepler (1571 – 1630) erkannten ellipsenförmigen Planetenbahnen lösten diese alten Vorstellungen ab.

Astronomen entwickelten im Laufe der letzten Jahrhunderte auf Basis ihrer neu gewonnenen Kenntnisse realisti­schere Vorstellungen, Theorien und Modelle, die bei weiteren fortschreitenden Entdeckungen wiederum überarbeitet werden mussten oder ersetzt wurden. Dabei spielte die Erfindung und Nutzung des Fernrohres eine entscheidende Rolle, mit der Weiterentwicklung zu Spiegelteleskopen, Radioteleskopen usw. und seit der zweiten Hlfte des letzten Jahrhunderts die Nutzung von Weltraum-Teleskopen.

Wo stünden die heutigen Forscher, wenn sie nicht in der Vergangenheit immer wieder alles hinterfragt und viele bislang unbekannte Fakten, Probleme oder Phänomene in den Erklärungen neu untersucht und überdacht hätten? Sie kehren immer wieder zu den Fakten zurück und gleichen die Ergebnisse ihrer Forschung mit ihnen ab. Einen Konsens (vergleichbar dem iǧmāʿ) der Astronomen jedes Zeitalters gab es sicherlich auch, aber er hat sich nicht durchgesetzt gegenüber neuen Ideen aufgrund neuer Fakten.

Diese Grundhaltung sollte auch der Ausgangspunkt muslimischer Gelehrter sein, wenn sie sich mit den Aussagen des Qur'âns, seiner Interpretation und seine Bezugnahmen auf reale Fakten untersuchen und nicht ein Festklammern an irgendeinem „Konsens islamischer Gelehrter“ (iǧmāʿ) aus der Vergangenheit, die damals keine Kenntnis von der Entstehung des sog. Sodom-Mythos hatten. Sie müssen mehr Aufwand treiben, alte Mythen, überkommene Meinungen und Aussagen früherer Gelehrter kritisch zu prüfen, indem sie nach deren belastbaren Belegen dafür suchen und sie erneut hinterfragen, anstatt – wie in der Astronomie vor Jahrhunderten – die bekannten Standpunkte als unumstößlich zu betrachten.

Die großen muslimischen Gelehrten der Vergangenheit verfügten nicht über das Wissen, das wir heute haben. Deshalb müssen wir auch sie kritisch hinterfragen und neu bewerten. Und in meinem Text habe ich gezeigt, wann und wie der Sodom-Mythos in das muslimische Denken eindrang, ohne dass ein muslimischer Gelehrter seine früheste Entwicklung erforscht hätte. Muslime akzeptierten ihn, ohne ihn zu prüfen, zu hinterfragen. Muslimische Gelehrte lasen den Qur'ân überwiegend durch die Brille der mawâlî-Kommentare und hielten sich nicht primär an den arabischen Wortlaut des Qur'âns (das ist ein Ergebnis meiner Unter​­suchung).

Festhalten an überkommenen Ansichten, sobald neue Erkenntnisse vorliegen. führen zu einer Art musealer Konstrukte ohne Bezug zur Realität und schlimmer noch, es bedeutet, den Wahrheitsgehalt des Qur'âns auf Basis von einem überholten Wissensstand zu verfälschen, indem die eigene Meinung über den Wortlaut des Qur'âns gestellt wird und diesem willkürlich die Aussage von Fantasiegeschichten übergestülpt wird.

„Wissenschaft“ über den Islam muss erst noch eine Wissenschaft werden und sich nicht nur mit dem histo­risch entwickelten Islam-Verständnis befassen. Sie muss die Lehre der Religion mit der Schöpfungsrealität abgleichen und darauf verzichten, dem Schöpfer die vorhandenen Vorurteile und Ideen „unterzuschieben“. Denn Allah hat die die Welt, so wie sie ist, nach Seinem Willen geschaffen, nicht nach den später von Men­schen entwickelten Vorstellungen.

Was manchen Menschen an der Schöpfung nicht zusagt, muss eingehend untersucht werden und nicht einfach mit einem Verbot belegt werden.

Wir müssen einerseits anerkennen, was muslimische Gelehrte in der Vergangenheit Großartiges konzipiert haben, andererseits aber auch Falsches aufgrund deren fehlerhafter, unvollständiger Kenntnisse.


Internet-Adressen mit weiteren Informationen und Bücher zu dem Thema:
https://www.islam-und-homosexualitaet.de/Erfahrungen/